Das verwöhnte griechische Establishment denkt, dass es niemandem Rechenschaft schuldet – das Ausland schaut meist zu. Vor vielen Jahren telefonierte ich mit dem griechischen Konsulat in Zürich – den Anlass dazu habe ich vergessen. Ich erinnere mich aber, dass ich eine ausweichende und unbestimmte Antwort erhielt. Warum sie das nicht klarer sagen könne, fragte ich die Dame am anderen Ende der Leitung. «Wir sind der Staat, wir machen, was wir wollen!», war die entlarvend ehrliche Antwort.
Diese Mentalität ist auch heute noch weit verbreitet in der griechischen Verwaltung – angefangen bei der Regierung und bis hinunter zu kleinen Provinz- oder Gemeindekönigen.
Das griechische Polit-System ist geradezu darauf angelegt, Transparenz zu verhindern, Korruption zu ermöglichen und Politiker vor einer möglichen Strafverfolgung zu schützen.
Griechenland ist zum Beispiel eines der Länder, in denen es kein Öffentlichkeitsgesetz gibt, nach dem ein Bürger im Rahmen des Freiklageverfahrens öffentliche Informationen anfordern kann, um den Behörden auf die Finger zu schauen. In Ländern wie der Schweiz oder Deutschland kann man Korrespondenzen, Nachrichten usw. von Personen des öffentlichen Lebens bei der Erfüllung ihrer Aufgaben oder öffentliche Daten aus öffentlichen Datenbanken anfordern und gegebenenfalls freiklagen und sich ein Bild über deren Handel machen. Keine griechische Partei hat diese Frage jemals aufgeworfen und je ein solches Gesetz gefordert.
Denn die griechischen Politiker wissen genau, dass, wenn die einschlägigen Rechtsvorschriften und die im Ausland verhängten Strafen bei Nichteinhaltung von Vorschriften durch die Verwaltung, das autoritäre und arbiträre Handeln der Behörden an die Öffentlichkeit gelangen würden, viele Skandale ans Licht kämen, von denen man bisher nur die Spitze des Eisbergs sieht.
Szenenwechsel: Der frühere Landwirtschaftsminister der regierenden Partei Nea Dimokratia (ND), Lefteris Avgenakis, hat seine politische Karriere wohl beendet, nachdem er auf dem Athener Flughafen Eleftherios Venizelos einen Flughafenangestellten brutal attackierte. Der Vorfall ereignete sich am 28. Juni, als Avgenakis seinen Flug nach Kreta verpasste. Er reagierte daraufhin aggressiv, stürmte hinter den Flughafenschalter und griff einen 22-jährigen Mitarbeiter an, indem er diesem zurief: «Weisst Du überhaupt, wer ich bin?» Pech für den Politiker: Das Geschehen wurde von einer Überwachungskamera aufgezeichnet, das Video kursierte in den Medien und führte zu öffentlichen Empörungen.
Premierminister Kyriakos Mitsotakis musste Avgenakis daraufhin aus der Fraktion der Nea Dimokratia ausschliessen. Der Angriff löste Ermittlungen der Staatsanwaltschaft aus. Avgenakis drohen Anklagen wegen Nötigung, Gewaltanwendung und anderen Straftaten. Die Flughafenmitarbeitergewerkschaft unterstützte den angegriffenen Kollegen und stellte weiteres Bild- und Videomaterial zur Verfügung.
Die Frage: «Weisst Du überhaupt, wer ich bin?» habe ich schon mehrmals gehört. So reagieren jeweils Mitglieder des griechischen Establishments, wenn sie nicht sofort erkannt werden und nicht gleich in den Genuss einer privilegierten Behandlung kommen.
Vor einigen Jahren musste ich einmal die Reservation in einem Hotel stornieren. Gemäss Stornierungsbedingungen hatte ich Anrecht auf volle Rückerstattung –, die nicht erfolgte. Ich rief an. Der Hotelbesitzer merkte an meinem ausländischen Akzent, dass ich nicht Grieche sei. Er vermutete richtig, dass ich mit einer Griechin verheiratet bin, und versuchte im Gespräch herauszufinden, wer die Familie meiner Frau sei. Was ihn umtrieb: Gehören die zum Establishment oder kann ich sie ungestraft ignorieren?
Ich erhielt das Geld zurück, aber auf Umwegen und das Hotel steht seither bei mir auf der schwarzen Liste.
Wir diskutierten kürzlich mit einer griechischen Studienfreundin. Sie besitzt einen Flecken Land etwas abseits von ihrem Wohnort. Eines Tages stellte sie fest, dass dort praktisch über Nacht Kabel für Windräder gelegt wurden, ohne Fragen, ohne Information, ohne Einsprachemöglichkeit. Unsere Freundin muss nun Anwälte einspannen und bezahlen, Gleichgesinnte finden und hoffen, dass ihr Besitz respektiert wird. Das ist der griechische Staat, wie er leibt und lebt. Man tue einfach etwas, und wenn es dann Protest gibt, sieht man weiter. Und der griechische Staat sorgt dafür, dass die Spiesse nicht gleich lang sind.
Hin und wieder explodiert eine Bombe in den Händen der Verantwortlichen, wie als vor einiger Zeit die Europaabgeordnete Eva Kaili in Brüssel verhaftet wurde, wenn im Ausland ermittelt wird – in Athen wäre Kaili wohl praktisch unantastbar gewesen.
Ich habe schon mehr über fehlende Rechtsstaatlichkeit, autoritäres Gehabe und die komplette Erosion der Pressefreiheit in Griechenland geschrieben (siehe zum Beispiel hier, hier, hier und hier).
Die Reaktion der Wähler auf die katastrophale Regierungspolitik der ND, führte bei den Europawahlen zu einem Rückgang der Stimmen für die ND, da einige Wähler sich von der Partei abwandten, aber verglichen mit der katastrophalen Bilanz der Regierung, ist die Reaktion der Wähler verhalten.
Ministerpräsident Mitsotakis deutete das Ergebnis der Wahlen als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Umsetzung des Regierungsprogramms und kündigte an, Strukturreformen mit neuem Elan voranzutreiben. Trotz des Stimmenrückgangs bleibt die ND aufgrund der Zersplitterung und der inneren Konflikte der Opposition weiterhin dominant im politischen Spektrum Griechenlands.
Nur aufgrund der Nicht-Opposition der anderen Parteien im Parlament konnte die Regierung zum Beispiel die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe oder das obligatorische gemeinsame Sorgerecht durchsetzen, beides Dinge, die entweder bei einer Mehrheit der Bevölkerung äusserst unbeliebt oder der streitlustigen griechischen Lebenswirklichkeit nicht entsprechen.
So geht die Regierung weiterhin nach dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip vor («ich mach mir die Welt widewide wie sie mir gefällt»). Die Opposition hat kein Rezept dagegen und Brüssel und Washington freuts.