Ein tiefer Seufzer ging am Samstagabend durch den Römer Palazzo Montecitorio. Um 20.19 Uhr stieg (symbolisch gesprochen) weisser Rauch über dem Palast auf. Das «Konklave» hatte nach stürmischen, wenig erbaulichen sechs Tagen endlich eine Wahl getroffen: Sergio Mattarella, der bisherige Staatspräsident ist der Neue.
Der 80-jährige Mattarella, ein ehemaliger Verfassungsrichter, ist ein weitherum respektierter Mann: eine moralische Instanz, wie sie Italien so nötig hat. Seine siebenjährige Amtszeit läuft am kommenden Donnerstag aus. Immer wieder betonte er: «Ich bin 80 Jahre, ich bin müde, ich werde mich nicht erneut zur Verfügung stellen, auch nicht für einige wenige Jahre.» Dass er es nun trotzdem tut, ist die erste gute Nachricht. «Wenn es nötig ist, dann mache ich es», sagte er am Samstag. «Auch wenn ich andere Pläne hatte.» Mattarella erhielt schliesslich 759 Stimmen – ein ausgezeichnetes Resultat.
Die zweite gute Nachricht ist die: Ministerpräsident Mario Draghi, der die Regierung seit einem Jahr führt und das Land in ruhigere Gewässer gelenkt hat, bleibt vorerst Regierungschef.
Das Ende eines Polit-Clowns
Die dritte, sehr gute Nachricht ist: Der 85-jährige Silvio Berlusconi, ein Polit-Clown, der das Land in den Ruin gewirtschaftet hat, ist endlich weg vom Fenster. Er liegt zur Zeit schwer beleidigt im Mailänder Spital «San Raffaele» – zur Kontrolle, wie es heisst. Beleidigt ist er, weil die italienische Politik seine «grossen Verdienste für das italienische Volk», wie er sagt, nicht gewürdigt hat und ihn nicht als Staatspräsidenten krönen wollte.
Trotz dieser drei guten Nachrichten:
Dass Sergio Mattarella sich nun doch bereit erklärt, seinem Septennat noch einige Jahre anzuhängen, zeugt von der verzweifelten Situation, in der sich die italienische Politik befindet. Eigentlich ist die Wiederwahl Mattarellas eine Bankrott-Erklärung des italienischen Parlaments.
Ohne Strategie, ohne Plan A, B oder C
Zwar hatte kaum jemand eine schnelle Wahl erwartet. Dazu ist das Parlament allzu fragmentiert, allzu zerstritten. 17 Parteien sind in der Abgeordnetenkammer und im Senat vertreten, und fast jede dieser Parteien ist ein Sammelsurium verschiedener Flügel. Selbst die Rechtspopulisten zeigten, dass sie tief zerstritten sind.
Ohne eine wirkliche Strategie, ohne Plan A, B oder C stolperte man in diese wichtige Präsidentenwahl. Immer wieder wurden neue Namen hervorgezaubert. Alles wirkte nicht nur zufällig, willkürlich und beliebig: Es war es auch. Es wurde gefeilscht, gedroht, telefoniert, man traf sich in Hinterzimmern. Und natürlich weist man sich auch jetzt die Schuld zu, dass man sich nicht auf einen neuen Namen einigen konnte.
Man kann einwenden, dass dies ein Zeichen funktionierender Demokratie ist, aber Demokratie soll nicht mit Chaos verwechselt werden. Für einmal hatte Giorgia Meloni, die Chefin der Postfaschisten nicht ganz unrecht, wenn sie sagte: «Das Parlament hat einmal mehr gezeigt, dass es seiner Aufgabe nicht gewachsen ist.»
Ein 87-jähriger Kandidat
Die Verzweiflung war so gross, dass Matteo Salvini, der Chef der rechtspopulistischen «Lega», doch tatsächlich den ehemaligen Richtiger Sabino Cassese als Kandidaten vorschlug. Cassese ist bald 87 Jahre alt. Die Amtszeit des Staatspräsidenten dauert sieben Jahre. Er wäre also, wenn alles gut geht, bis 94 im Amt – jetzt, wo das Land ein zupackendes Staatsoberhaupt bräuchte. Auch der 83-jährige Giulio Amato und der 79-jährige Marcello Pera wurden gehandelt. Hätte man nicht früher einen etwas jüngeren Kandidaten aufbauen können?
Einen schweren Schlag haben die drei rechtspopulistischen Parteien einstecken müssen. Sie (Matteo Salvinis «Lega», Giorgia Melonis «Fratelli d’Italia» und Silvio Berlusconis «Forza Italia») hatten immer wieder ihre Einigkeit beschworen. Sie erklärten, die beiden letzten Staatspräsidenten seien eher «Linke» gewesen; deshalb brauche es jetzt einen rechtsgerichteten Präsidenten der Republik.
«Die Rechte liegt im Koma»
Nur: Den rechtspopulistischen Drei gelang es nicht, eine valable Person zu präsentieren. Eine echte Blamage erlitt Salvini, der sich als Königsmacher aufspielte und am Freitag die umstrittene Maria Elisabetta Casellati ins Rennen schickte. Sie wurde nicht nur nicht gewählt, sondern erzielte mit 382 der nötigen 505 Stimmen ein miserables Ergebnis. Selbst 71 rechtsgerichtete Parlamentarier stimmten nicht für sie. Salvini stand mit abgesägten Hosen da. Guido Crosetto, ein einflussreicher Mann bei den «Fratelli di’Italia» kommentiert: «Die Rechte liegt im Koma.»
Ein Sieg der Linken
Da sich das Parlament offensichtlich nicht mehrheitlich auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin einigen konnte, tauchte am Samstagvormittag die «Option Mattarella bis» wieder auf. Selbst Ministerpräsident Mario Draghi hatte sich inzwischen für Mattarella ausgesprochen. Der 80-Jährige, dessen Amtszeit am kommenden Donnerstag zu Ende geht, hatte mehrmals erklärt, er stünde nicht mehr zur Verfügung – auch nicht nur für zwei, drei zusätzliche Jahre. Inzwischen wurde er jedoch von einflussreichen politischen Notabeln derart bekniet, dass er seine Meinung änderte.
Auch die Linke spielte eine wenig konstruktive Rolle. Sie begnügte sich damit, genüsslich zuzuschauen, wie sich die Rechte zerfleischte und nichts erreichte. Die Wiederwahl des eher linksgerichteten Mattarellas ist ein Sieg der Linken. Enrico Letta, der Chef der Sozialdemokraten, streckte nach der Wahl demonstrantiv den Daumen hoch.
Es ist erst das zweite Mal in der Geschichte der italienischen Republik, dass ein Staatspräsident wiedergewählt wird. 2013 konnte sich das Parlament, wie jetzt, auf keinen Kandidaten und keine Kandidatin einigen. Der damalige, sehr geschätzte 87-jährige Staatspräsident Giorgio Napolitano, hängte dann seiner siebenjährigen Amtszeit noch zwei Jahre an. Dann wurde 2015 Mattarella gewählt.
Draghi, der einstige Favorit
Im Vorfeld der Wahl war der parteilose Ministerpräsident Mario Draghi allgemein als der grosse Favorit für das Staatspräsidium gehandelt worden. Nach fast dreissig Jahren wirrer Politik mit allen negativen politischen und wirtschaftlichen Kollateralschäden, ging es letztes Jahr in Italien endlich wieder aufwärts. Die Wirtschaft wuchs, das Gezänke im Parlament war überschaubar, die EU zahlte dem Land 200 Milliarden Aufbauhilfe, die Leute kauften wieder, es wurde wieder investiert, die düstere Stimmung in der Bevölkerung hellte sich auf – und das alles dank einem Mann: dem jetzigen Ministerpräsidenten Mario Draghi. Der «Economist» erklärte Italien zum «Land des Jahres», Draghi wurde mit Lorbeerkränzen nur so überhäuft. Draghi war es gelungen, alle grossen Parteien – ausser den postfaschistischen «Fratelli d’Italia» – in einer Art Grossen Koalition einzubinden. Das brachte Ruhe in die Politik.
Einige argumentierten, Draghi solle Ministerpräsident bleiben, um den produktiven Regierungskurs fortsetzen zu können. Als Regierungschef bringe er dem Land mehr denn als Staatspräsident.
Jetzt also bleibt er Ministerpräsident. Ist damit alles gut?
Was will Draghi?
Draghi hat bei den jetzigen Präsidentschaftswahlen nie mehr als 5 Stimmen erhalten: 5 von 1009. Er war ein Opfer des kleinlichen Parteiengezänks geworden. Berlusconi wollte sich an ihm rächen, weil Draghi geholfen hat, ihn 2011 zu stürzen. Salvini fürchtete, künftig im Schatten des grossen «Super-Mario» zu stehen. Vielen der mediokren Parlamentariern gefällt er nicht, weil er selbstbewusst auftritt. Andere fürchteten, als Staatspräsident werde er – à la Macron – immer mächtiger und nehme die Regierung an die Leine.
Das Argument, als Ministerpräsident bringe er dem Land mehr denn als Staatspräsident, ist ein gefährliches Argument. Denn: Wie reagiert Draghi, dass er nun vom Parlament förmlich abserviert wurde? Offiziell reagiert er natürlich staatsmännisch. Doch wie lange? In Rom gibt es einflussreiche Politbeobachter, die nicht ausschliessen, dass Draghi als Ministerpräsident bald einmal zurücktreten könnte.
Vor allem dann, wenn Draghis Grosse Koaliton zerbricht und die politischen Raufereien wieder beginnen.
Und dann? Dann gibt es vermutlich Neuwahlen, welche die rechtspopulistischen Parteien gewinnen. Dies zumindest sagen jetzige Meinungsumfragen voraus.
Neuwahlen im nächsten Frühjahr
Doch selbst wenn Draghi bliebe. Die Legislatur geht in gut einem Jahr, Ende Mai 2023, zu Ende. Dann wird ein neues Parlament gewählt. Spätestens dann könnte die Amtszeit des parteilosen Draghi vorbei sein. Dann könnten die Rechtspopulisten Matteo Salvini und Giorgia Meloni an die Macht gelangen.
Viele fürchten, dass spätestens dann das alte Parteiengezänk wieder beginnt. Das wird die Wirtschaft und die Investoren erschrecken. Die EU könnte dann die in Etappen zu bezahlende Aufbauhilfe einfrieren – dann wäre Italien wieder das, was es während Jahrzehnten war: ein im Schlamm treibendes europäisches Sorgenkind.
Nicht den Teufel an die Wand malen
Draghi als Staatspräsident, so argumentieren einige, wäre für sieben lange Jahre ein starkes Korrektiv gewesen. Als Staatsoberhaupt hätte er zwar die Regierungsarbeit nicht bestimmen können, doch ein starker Staatspräsident kann wesentlichen Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen. Er kann zum Beispiel Minister entlassen oder ablehnen. Genau davor haben sich viele Parteichefs gefürchtet.
Natürlich ist es nicht der Moment, den Teufel an die Wand zu malen. Die Wahl von Mattarella und die Aussicht, dass Draghi Ministerpräsident bleibt, ist eine gute Nachricht und bringt dem Land vorerst Ruhe und Stabilität. Es ist zu hoffen, dass diese Ruhe nicht von kurzer Dauer ist.
Und: In Italien Prognosen zu machen, ist ohnehin Unsinn. Im Belpaese kommt sowieso immer alles anders, als man denkt.