Diese Freiheit des Geistes begegnete mir in einer sehr zugespitzten und dramatischen Weise, als ich mich mit der katholischen Untergrundkirche der ehemaligen Tschechoslowakei beschäftigte. 1948 hatten die Kommunisten in Prag die Macht erobert. In ihrem Bemühen, die Gesellschaft in allen Sektoren zu kontrollieren, war ihnen die katholische Kirche mehr als ein Dorn im Auge. Es konnte ja nicht sein, dass eine ausländische "Macht", der Vatikan, bestimmte, was in diesem Land galt.
Also wurde die Kirche bekämpft, obwohl sie ohnehin schwach war: In Tschechien war sie eng mit der alten habsburgischen Fremdherrschaft liiert und hatte darum einen schweren Stand, nachdem der Erste Weltkrieg jene hinweggefegt hatte. In der Slowakei war die Glaubwürdigkeit der Kirche im Keller, nachdem sie mit dem Nationalsozialismus kollaboriert hatte und der Staatspräsident der Ersten Slowakischen Republik von Hitlers Gnaden ein katholischer Priester war, Jozef Tiso.
Strenge ideologische Kontrolle
Kaum an der Macht, veranstaltete das kommunistische Regime in den 50er Jahren eine der massivsten Kirchenverfolgungen des Ostblocks. Bischöfe wurden abgesetzt, eingesperrt und durch willfährige Kollaborateure ersetzt. Die Priesterseminare sperrte man zu, die Rekrutierung von neuem Personal wurde beschränkt und in zwei staatlichen Ausbildungsstätten (Litoměřice und Bratislava) einer strengen ideologischen Kontrolle unterworfen. Die Seelsorge der Kirche limitierte man auf Sonntagsmessen und Sakramentenverwaltung. Kirchliche Jugendarbeit und Erwachsenenbildung waren streng verboten.
In dieser Situation trat eine charismatische und intellektuell überragende Figur auf. Oder besser: tauchte ab in den Untergrund, gründete eine Verborgene Kirche und leitete sie bis zu seinem Tod 1988 – ein Jahr vor der Samtenen Revolution. Es war Felix M. Davídek, hellwach, unerschrocken und vielseitig gebildet in Theologie, Medizin, Kybernetik, Biologie, Musik und Geschichte, das pure Gegenteil von einem hinterwäldlerisch verkorksten Kleriker. Der erste Versuch seiner Untergrundarbeit misslang freilich. Er landete für 14 Jahre im Gefängnis und fand sich in guter Gesellschaft wieder: Viele andere Priester und Intellektuelle teilten sein Los. Doch sein Widerstandsgeist wurde gestählt, und als er 1964 wieder frei kam, begann er am andern Tag von neuem, mit viel Energie und List. Denn die Methoden des ‚Feindes‘ hatte er im Knast haarscharf kennen gelernt.
Sein Hauptziel war die Ausbildung von Priesterpersönlichkeiten, die intellektuell und mental in der Lage waren, den Menschen beizustehen und auch in einer atheistischen Gesellschaft die Botschaft des Evangeliums zu bezeugen und durchzutragen, wo immer es sei, selbst in Zeiten noch härterer Verfolgung, im Gefängnis, in der Verbannung. Und er überlegte sich zusammen mit seinen Mitstreitern in grosser innerer Freiheit – notgedrungen auch in Unabhängigkeit von Rom –, welche Gestalt die Kirche in der Konstellation der Geister und Ideologien der Gegenwart annehmen müsse. In der Art, wie er die wissenschaftlichen und kulturellen Herausforderungen der Moderne aufgriff, war er prophetisch und visionär. Und die Ernsthaftigkeit, mit der seine Gemeinschaft (Koinόtés genannt) sich mit der Bibel auseinandersetzte, wird auch von der evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder als beispielhaft eingeschätzt.
Ducken und anpassen
Felix M. Davídek war freilich auch Praktiker und Taktiker. Er erkannte bald, dass es nicht reichte, wenn er ab und zu einen seiner fundiert und situationsbewusst ausgebildeten Theologen unter irgendeinem Vorwand ins kommunistische Bruderland DDR oder Polen schicken konnte, wo er dann im Geheimen zum Priester geweiht wurde (auch Bischof Karol Wojtyła war daran beteiligt). Mit einigem Aufwand gegenüber seiner biederen und ihm ganz und gar nicht gewogenen Hierarchie – ducken und anpassen war das Losungswort – erreichte er, dass er 1967 nach allen Regeln der römischen Zunft zum Bischof geweiht wurde.
Nun konnte er selber Priester und auch Bischöfe weihen und machte davon regen Gebrauch. Nach dem Zusammenbruch des Prager Frühlings 1968, dessen Erfolg er nie getraut hatte, sah er sich in seiner Sorge bestätigt und erwartete neue Bedrängnisse. Überdies hatte er ein offenes Auge und Ohr für die orthodoxe Ostkirche in seinem Land. Deren mit Rom unierter Zweig war von den Kommunisten gänzlich aufgelöst worden. So weihte er Priester, die für Christen beider Kirchen Seelsorge betrieben, und diese konnten ja nach alter Überlieferung auch verheiratet sein – so fielen sie auch weniger schnell in die Fänge des Überwachungsapparats, denn auch dieser hielt sich selbstverständlich an die römische Norm des zölibatären Priesters.
Eine harte Herausforderung auch für seine eigene Koinótés-Gemeinschaft war Davídeks Vorhaben, Frauen für den Priesterdienst zu weihen. Er hatte im Gefängnis erlebt, wie die Männer im Geheimen Eucharistie feiern konnten, wie jedoch die sakramentale Nahrung und der geistliche Trost den Frauen versagt blieben, weil unter ihnen zwar Nonnen waren, aber niemand mit priesterlicher Ordination. An Weihnachten 1970 veranstaltete Davídek zu dieser Frage eigens eine Synode, die sich nur knapp für die Weihe von Frauen entschied – knapp, weniger aus theologischen Bedenken als aus der Erwägung, dass die Gemeinschaft damit kirchenpolitisch ins Abseits gerate.
Kommunikation mit dem Vatikan
Schon drei Tage später weihte Davídek seine Mitarbeiterin Ludmila Javorová und bestellte sie auch gleich zu seiner Generalvikarin. Die mutige Tat spaltete die Gemeinschaft und blieb ein Zankapfel auch in den Auseinandersetzungen mit Rom. Im tschechischen und slowakischen Untergrund wuchs so in der Verborgenen Kirche eine geistige und spirituelle Kraft heran, die schliesslich auch den marod gewordenen Kommunismus überdauerte.
Doch konnte sie sich auch gegenüber der offiziellen, staatsgläubigen und romhörigen Kirche behaupten? Schwierigkeiten türmten sich auf mehreren Ebenen auf. Felix M. Davídek war redlich bemüht und setzte abenteuerliche Methoden ein, um die Kommunikation mit dem Vatikan zu gewährleisten. Doch wegen der Bespitzelung war es für ihn lebensgefährlich, sich mit den Gesandten des Vatikans zu treffen (was diese freilich meist nicht richtig einzuschätzen wussten). Dazu kam, dass 1980 ein Untergrundpriester, Přemysl Coufal, nach seiner Rückkehr aus Rom in Bratislava umgebracht wurde. Heute weiss man, dass der staatliche Geheimdienst seine Spione auch im Vatikan platziert hatte.
Doch es gab auch ideologische Barrieren. In den 70er Jahren betrieb der vatikanische Aussenminister und spätere Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli seine berühmte Ostpolitik, die auf Kompromisse und Kuhhändel mit den kommunistischen Regimen bedacht war. Für ihn – und für seine Mitläufer in der einheimischen Hierarchie – war Felix Davídek natürlich ein Störenfried. Schliesslich war Davídek von theologischen Überzeugungen geprägt, die entschieden auf den Visionen und dem Kirchenbild des Zweiten Vatikanischen Konzils aufbauten. Auch dafür haben bis heute viele tschechische und slowakische Bischöfe nichts übrig. „Dem Konzil hat die Stunde schon lange geschlagen“, zitierte kürzlich der Untergrundbischof Jan Konzal einen massgeblichen tschechischen Bischof.
Feierliche Verzichtserklärung
Die entscheidende Differenz mit Rom aber bleibt die Priesterweihe von Frauen. Sie wurde zwar nach dem Konzil von verschiedenen Gremien ernsthaft diskutiert, doch Johannes Paul II. erklärte sie 1994 für tabu. So ist es vielen bis heute ein Ärgernis, dass Felix Davídek diesbezüglich 14 Jahre vorher Fakten geschaffen hat. Der Brünner Bischof V. Cikrle scheute sich nicht, bei der Psychologin namens Dr. Černá-Přikrylová abenteuerliche ‚Gutachten‘ zu bestellen, um Davídek als geistig nicht zurechnungsfähig zu diffamieren. Ludmila Javorová musste 1996 vor ihrem Brünner Bischof feierlich den Verzicht erklären, ihr Amt in der Öffentlichkeit auszuüben – nachdem sie zuvor vom Papst exkommuniziert und allerdings gleich wieder begnadigt worden war.
Von den Priestern, die Davídek geweiht hatte, verlangte man misstrauisch, dass sie sich bedingungsweise wiederweihen liessen. Verheiratete Priester degradierte man zu Diakonen, sofern sie nicht in der Ostkirche Unterschlupf fanden. Und verheiratete Bischöfe erst recht.
Die ‚Abwicklung‘ der Verborgenen Kirche durch die einheimische Hierarchie und unter der Oberaufsicht des damaligen Kardinals Joseph Ratzinger ist eine Schmach. Einer der Untergrundbischöfe, Dušan Spiner, brachte sie auf dem Punkt: „Man nannte uns auch die schweigende Kirche. Doch die Kommunisten haben uns nicht zum Schweigen gebracht, erst der Vatikan.“
Am 2. April dieses Jahres konnte ich in Wien im Namen der Herbert-Haag-Stiftung Ludmila Javorová und Dušan Špiner den Preis für Freiheit in der Kirche überreichen. Die Standing Ovation, welche die beiden erhielten und die nicht aufhören wollte, zeigte mir, wie sehr Christen, die für die Freiheit für und in der Kirche kämpfen, bei wachen Christen Gehör und Unterstützung finden. An der Kirchenführung ist es, für den Verrat vor dem Evangelium und vor der Welt um Entschuldigung zu bitten und Felix M. Davídek zu rehabilitieren. Dies erst wäre eine pfingstliche Kirche.
Verdeckte Kommumikation
Eine kleine Notiz über alltägliche Mitteilungen in totalitären Zeiten: Wie ich Peter Križan – ein Mitglied der Geheimkirche und heute Chefarzt in Bratislava – am Flughafen in Wien erstmals traf, bat ich ihn um Entschuldigung, dass ich nicht am Tag zuvor meine Ankunft nochmals bestätigt hätte. Da sagte er mir: „Das ist für uns kein Problem.“ „Wie meinen Sie das?“, fragte ich. Darauf erzählte er mir, wie man in Zeiten des Totalitarismus Termine vereinbart hatte.
„Wir fanden heraus, dass die sicherste, das heisst vom Geheimdienst am wenigsten beachtete Form der Mitteilung die Postkarte war. Wenn man also einen Termin ausgemacht hatte, meist lange Zeit zuvor, kam man zur beschlossenen und im Kopf eingeprägten Zeit an den vereinbarten Ort. Fand man die Person nicht, ging man, um nicht aufzufallen, fünf Minuten später von dannen. Eine Stunde später kam man wieder, nötigenfalls auch nach zwei und drei Stunden.“
„Und wenn es auch dann nicht klappte?“
„Dann verzog man sich und fand sich ohne jede weitere Verabredung drei Monate später zur gleichen Zeit am gleichen Ort wieder ein.“
„Und wenn etwas dazwischen kam und jemand den Termin verschieben wollte?“
„Dann eben benützten wir die Postkarte und setzten harmlose Grüsse drauf. Entscheidend war jedoch das Bild, das man auswählte. Eine schöne Landschaft oder ein adrettes Dorfbild bedeutete: ‚Es ist etwas dazwischen gekommen, ich kann nicht kommen. Doch macht euch keine Sorgen, es ist nichts Ernsthaftes‘. War eine Burg, eine alte Waffe oder sonst was Kriegerisches vorne drauf, hiess dies: ‚Ich kann nicht kommen, es ist etwas Schwerwiegendes dazwischen gekommen‘. Konnte man das Postkartensujet weder dem einen noch dem andern zuordnen, war dies die Aufforderung, die Briefmarke abzulösen und darunter den neu vorgeschlagen Termin zu sehen.
Erwin Koller Journalist und Theologe, Begründer und langjähriger Leiter der „Sternstunden“ des Schweizer Fernsehens
Erwin Koller hat zusammen mit Hans Küng und Peter Križan zu diesem Thema ein Buch herausgegeben unter dem Titel: Die verratene Prophetie. Die tschechoslowakische Untergrundkirche zwischen Vatikan und Kommunismus. Edition Exodus, Luzern 2011.