Das Schiff liege im Wasser, meldet uns der Hafenmeister von Corre, aber den Hafen könnten wir vorerst nicht verlassen, denn die Saône führe Hochwasser und sei für die Schifffahrt bis auf weiteres gesperrt. Unser Ziel ist die Donau
Tatsächlich war der sonst so friedliche Fluss, dessen Strömung man sonst höchstens zu ahnen vermag, in der Nacht zum Sonntag um über zwei Meter gestiegen, so hoch wie schon seit Jahren nicht mehr. An vielen Orten hatte der Fluss sein Bett verlassen und Felder und Wiesen überschwemmt. Als Kapitän hätte man den richtigen Weg nicht mehr gefunden.
Die Schiffe an schwimmenden Stegen festgemacht
Wir fuhren am Montag trotzdem in die Franche Comté, schliesslich hatten wir unsere Abfahrt lange geplant und unser Auto bis unters Dach beladen. Die im Hafen liegenden Schiffe mit ihren weissen Aufbauten, welche sonst hinter dem hohen Uferbord versteckt sind, sah man schon von weitem über das flache Land schauen. Wie träge Ochsen standen sie in der Landschaft.
Nun wurde auch klar, wieso die Schiffe an schwimmenden Stegen festgemacht sind, welche mittels Halterungsringen an hohen Pfählen auf- und abwärts gleiten können. Und man begreift auch, wieso die Stahlpfähle so hoch sind – und ist froh darüber: Nicht auszudenken was geschähe, wenn die Stege, weil die Pfähle zu kurz berechnet worden sind, mit all den Schiffen ihren Halt verlieren und in der Strömung der Saône davon getrieben würden.
Den Fluss in eine Kette langgezogener Seen verwandelt
Aber die Menschen entlang des rund 450 Kilometer langen Laufes der Saône kennen deren Tücken. Auf dem schiffbaren Teil von immerhin 400 Kilometern zwischen Corre und der Mündung in die Rhone in Lyon beträgt der Höhenunterschied kaum 70 Meter. Das sind geradezu ideale Verhältnisse für die Schifffahrt: Mittels Wehren, welche in der unteren Saône 50 Kilometer und mehr auseinander liegen, haben die Wasserbauer den Fluss schon vor Jahrhunderten in eine Kette von langgezogenen Seen verwandelt, welche auch bei Trockenheit nicht leer laufen.
Doch wenn ein derart flacher Fluss nach langen Regenperioden das Zehn- oder gar Fünfzigfache seines normalen Abflusses zu bewältigen hat, kann dessen Fliessgeschwindigkeit wegen des kleinen Gefälles nur begrenzt zunehmen, wie wir das von unseren Alpenflüssen kennen, welche zu alles zerstörenden Ungetümen anzuschwellen vermögen .
Die Saône wird kaum je zum reissenden Fluss, sondern sie nimmt sich einfach mehr Raum, in dem sie die Talsohle unter meterhohen Wassermassen begräbt, im unteren Abschnitt nach einem Hochwasser oft tage- oder gar wochenlang.
Unterwegs auf dem Canal des Vosges
Das Niveau sei schon am Fallen, versicherte man uns bei unserer Ankunft am Montag, bis am Mittwoch könnten wir das kurze Stück vom Hafen bis zum Beginn des Vogesenkanals sicher wieder befahren. Statt wie sonst über steil zu den Stegen hinunterführenden Rampen konnten wir unser Gepäck und die Essensvorräte für einmal horizontal zu unserem Schiff „Solveig“ hinübertragen.
Seit Mittwoch sind wir tatsächlich auf dem Canal des Vosges unterwegs, praktisch allein, denn die Saône ist in ihrem unteren Teil noch immer gesperrt. Unser diesjähriges Ziel ist die Donau, und dazu müssen wir mehrere Wasserscheiden überwinden und insbesondere den Rhein kreuzen. Der Vogesenkanal folgt einem kleinen Flüsschen namens Le Côney, das in der Hochebene entspringt, welche die Täler von Saône und Moselle trennt.
Schutz vor der unberechenbaren Moselle
Bei Epinal werden wir die Moselle erreichen. Diese entspringt in den Vogesen und ist –im Gegensatz zur Saône – ein nicht so leicht zähmbarer Fluss. Aus gutem Grund haben es daher Flussbauer vorgezogen, die Fortsetzung des Vogesenkanals über die nächsten 60 Kilometer bis nach Neuves-Maisons als Seitenkanal zu erstellen, der – um von der unberechenbaren Moselle geschützt zu sein – diese bei Flavigny-sur-Moselle sogar auf einer Brücke überquert.
Kurz bevor die Moselle bei Neuves-Maisons zur europäischen Grosswasserstrasse zum Rhein bei Koblenz wird, wollen wir auf dem Embranchement de Nancy ins Tal der Meurthe hinüber wechseln und auf dem Canal de la Marne au Rhin nach Strasbourg fahren, vorausgesetzt das spektakuläre Schiffshebewerk von Arzviller, das aus den Vogesen nach Saverne ins Rheintal hinunter führt und während zwei Jahren wegen eines technischen Defektes ausser Betrieb war, werde nicht noch im letzten Moment unsere Pläne durchkreuzen.
Erinnerung an die Trockenheit des vergangenen Sommers
Ein grosses Schiff, das sich höchstens über kurze Distanzen über Land transportieren lässt, weil es für die meisten Strassenbrücken zu hoch ist, zwingt einen, eine Reise genau dort fortzusetzen, wo man sie im Vorjahr für den Winter unterbrechen musste. Der letzte Sommer hatte nämlich grossen Teilen Europas eine ganz andere Art von Wassernot beschert: Vom Juli bis November regnete es kaum, das Land trocknete aus, Bäche und Flüsse wurden zu kleinen Rinnsalen.
Das Reservoir de Bouzey westlich von Epinal, welches der Speisung des Vogesenkanals dient, war Mitte August praktisch leer, so dass der Kanal bis Jahresende still gelegt werden musste. Viele private Schiffe fanden sich damals auf der falschen Seite der Wasserscheide und mussten sich nach einem andern Überwinterungsort umsehen. (Damals in der Kindheit liessen sich solche Situationen beim Spielen viel einfacher lösen: Ein Deus ex machina transportierte die stecken gebliebenen Eisenbahnwagen oder Spielzeugautos souverän an den gewünschten Ort!).
Berechenbares und Unberechenbares
So beendete auch die „Solveig“ im vergangenen August, als Wassermangel herrschte, ihre Fahrt im Hafen von Corre, um sie erst viele Monate später, bei Wasserüberschuss, fortzusetzen. Überfluss und Mangel,
Zuviel und Zuwenig – die Extreme liegen oft nahe zusammen. In einer Gesellschaft, welche alles als plan- und beherrschbar hält, scheinen sie Relikte einer verflossenen Zeit, aber wir müssen nicht weit suchen um zu lernen, dass Wassernot – reissende Flüsse und vertrocknete Böden – eine ganz andere Art von Realität bedeuten können als die Luxusprobleme der Hobby-Kapitäne. Wenigstens erinnern uns die Erfahrungen auf den europäischen Wasserstrassen daran und setzen hinter unseren Plänen die nötigen Fragezeichen. Wir werden in den kommenden Wochen über das Berechenbare und Unberechenbare berichten.