Ein Spaziergang durch Dübendorf entlang der Glatt regt zum Nachdenken an über das ambivalente Verhältnis des Menschen zum Wasser.
Jemand hat im austrocknenden Bett der Glatt eine kleine Kolonie aus Steintürmen gebaut, als ob damit ein unbekannter Wassergott – oder ist es eine Göttin? – gegen die wachsende Trockenheit um Hilfe gerufen werden sollte. Ein Tanklaster der Gemeinde Dübendorf setzt indessen am gegenüberliegenden Ufer auf irdische Rettung; er fährt dem Flüsschen entlang und bewässert frisch gepflanzte Bäume, deren Blätter Anzeichen müder Resignation zeigen. Noch hält sich heute Vormittag die Hitze zurück, welche die letzten Tage bestimmt hat, aber sie liegt, ich spüre es mit jeder Faser meines Körpers, auf der Lauer.
Wie schon vor einem Jahr schenkt mir ein Zahnarztbesuch meiner Frau die Zeit für eine ziellose kleine Wanderung durch Dübendorf und damit für die Entdeckung jener Kleinigkeiten, welche unsere Welt spannend und liebenswert machen und an denen wir sonst achtlos vorüberhasten. Das Wasser in der Glatt sucht sich träge seinen Weg zwischen den Steinen. Bei der unteren Einmündung des Wiler Seitenkanals haben sich die Bewohner eines ehemaligen Fabrikgebäudes ihr privates Venedig geschaffen: Auch wenn kein architektonisches Juwel, auf dieser «Glatt-Terrasse» würde man gerne einen Kaffee trinken, doch niemand lädt mich dazu ein.
Später beobachte ich eine Barbe, die sich mühsam über eine seichte Stelle hinweg zur nächsten Vertiefung schlängelt und sich dort mit sparsamen Bewegungen zwischen den trocken liegenden Kiesinseln gegen die flaue Strömung stellt.
Etwas weiter flussaufwärts, vorbei an einem malerisch-wilden Garten, wo sich geschwätzige Spatzen mit Max und Moritz sowie mit Biene Maja und ihren Kindern zu einem Schwatz eingefunden haben, wandert «Baron Graureiher» majestätisch durchs seichte Wasser. Bei jedem Schritt schnellt sein langer Hals ruckartig nach vorne. Plötzlich sticht sein spitzer Schnabel ins Wasser, doch noch bevor der Fotograf Zeit gehabt hätte, diesen Moment für die Nachwelt festzuhalten, ist das zappelnde Fischchen bereits durch den gewundenen Hals im Magen des Reihers verschwunden.
«Im Chreis» bei der Kunsteisbahn – ob sie sich wohl per Whatsapp mit dem Rhonegletscher und andern Kollegen über die «Eisiges» diskriminierende Arglist der Zeit austauscht? –, dort wo ein hufeisenförmiger Damm die Glatt in zwei Arme teilt, überquere ich den Fluss und wandere auf dem Eichstockweg wieder stromabwärts.
Ein verrostetes Wehr erinnert daran, dass die Bändigung des Wassers den Menschen schon immer zu genialen und in ihrer Funktionalität ästhetischen Erfindungen angeregt hat. Doch oft – das mag an einem trockenen Sommertag leicht vergessen gehen – verbirgt sich hinter der Romantik des Wasserbaus auch bittere Not, die Not des Zuwenig, der verdorrenden Ernte auf dem Felde oder der stillstehenden Maschinen in den Fabriken, welche den Bauern einst ihr Einkommen verbessert hatten, oder die Not des Zuviels, der alles niederreissenden Fluten, welche innert weniger Stunden zu zerstören vermögen, was Menschen mühsam während Jahren aufgebaut hatten.
Es muss seit je eine Art von Hassliebe gegeben haben zwischen Mensch und Wasser. Wo immer möglich, hat sich der Mensch in unmittelbarer Nähe von Gewässern niedergelassen, wohl wissend, dass der lebensspendende Freund auch zum tödlichen Feind werden kann. Die Besiedlungsgeschichte der Schweiz handelt zu einem grossen Teil vom Umgang mit dem Wasser, von Hoffnungen, Erfolgen und Katastrophen. Aber damit ist unser Land nicht allein: Wo immer es auf unserer Erde Täler und Flüsse gibt, schrieb das Wasser die entscheidenden Kapitel. Zum Beispiel bei unseren nördlichen Nachbarn, in Rheinland-Pfalz, noch ist es kaum mehr als ein Jahr her:
Am 14. Juli 2021 verwüstete die Ahr, ein kleiner Fluss, der in Remagen in den Rhein mündet, ein wegen seines guten Weins bekanntes Tal und verwandelte Dörfer, Infrastruktur und Kulturen in eine Schlammwüste. Die Spuren des Hochwassers sind bis heute nicht getilgt. Die Bahn von Remagen, welche einst in südwestlicher Richtung bis Adenau und seit 1990 wenigstens noch bis Ahrbrück führte, wurde damals über weite Strecken vollständig zerstört. Heute ist sie wenigstens bis Walporzheim (westlich von Ahrweiler) wieder in Betrieb. Ob die vollständig zerstörte Strecke im engen Tal der oberen Ahr bis Ahrbrück je wieder gebaut werden wird, bleibt ungewiss.
Ich hatte in den Jahren 2000/01 zusammen mit einer Gruppe von zwölf weiteren Wissenschaftlern unter der Leitung des ehemaligen Bundestagsabgeordneten und späteren Hessischen Ministers für Wirtschaft und Technik, Prof. Ulrich Steger, im Auftrag der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler an einem Projekt über die «Nachhaltige Entwicklung und Innovation im Energiebereich» gearbeitet, mich alle drei Monate mit meinen Kollegen im Ahrtal getroffen und dabei nicht nur kompetente und interessante Menschen, sondern auch die ausgezeichneten lokalen Weine kennengelernt. Damals hiess es, es seien die nördlichsten ernstzunehmenden Rotweine Deutschlands.
Mit etwas Wehmut habe ich kürzlich das aus unserer Arbeit entstandene Buch (1) aus meinem Büchergestellt genommen, wehmütig wegen den vielen entspannten Reisen, welche ich jeweils im Zug auf der landschaftlich schönen rechtsrheinischen Bahnstrecke von Mainz bis Remagen und dann mit der altmodischen Lokalbahn bis zum kleinen Bahnhof Ahrweiler unternommen hatte, wo die Zeit still gestanden zu sein schien, wehmütig aber auch beim Lesen all der guten (und rückblickend visionären) Analysen und Empfehlungen, welche, hätte man sie damals zur Kenntnis genommen, manches anders aussehen liesse, was heute als Schreckgespenst der Klima- und Energiezukunft der kommenden Jahre an die Wand gemalt wird.
«Halt!» sage ich mir beim Wiederlesen der letzten Zeilen. Das tönt nun doch etwas allzu stark nach hochgestrecktem Moralfinger. Liegt unser Problem vielleicht nicht ganz an einem andern Ort? – Dass sich Lebewesen zu ihrem eigenen Nutzen an der Erde «bedienen», entspricht einem Grundprinzip der Evolution. Damit ist der Mensch nicht allein, nur hat er es in seinen Möglichkeiten weiter gebracht als alle Lebewesen je zuvor. Und er wird sich das «Die-Erde-untertan-machen» auch künftig nicht austreiben lassen. Nur sollte er dabei in seiner Hybris jenes uralte Grundgesetz der Evolution nicht vergessen: Die Naturkräfte sind weder gut noch schlecht, und die Erde ist kein Disneyland mit wohlgepflegten, trittsicheren Wegen, wo man sich jammernd bei der Direktion beschweren kann, wenn die Verhältnisse einmal anders aussehen sollten als gewohnt und der «Spaziergang» gefährlich, ja tödlich endet.
Man muss nur die Augen öffnen: Tiere und Pflanzen scheinen diese Botschaft zu akzeptieren, und dennoch «arbeiten« sie unverdrossen an der Zukunft ihrer Art. Ein kleiner Teich bei der Guldenen ob der Forch hat uns in diesem Sommer Nachhilfestunden gegeben: Zuerst waren es die quakenden Frösche, dann die Kaulkappen, die Wasserschnecken und unzählige Insekten, welche den Tümpel in Besitz genommen hatten, als ob er für die Ewigkeit gebaut wäre, dann eine Gruppe von Stockenten, unter denen schliesslich eine Mutter mit fünf Jungen das Rennen um das aquatische Territorium machte, scharf beobachtet von einem Paar Roter Milane, einem Graureiher und verschiedenen Störchen. Mit jeder Woche sank der Wasserspiegel stärker, so dass die kleinen Enten schliesslich mühsam zwischen den Wasserpflanzen herum wateten.
Eines Tages waren sie alle weg, Mutter und Kinder. Nur die Störche stakten weiterhin über die Wiesen. – Was wohl aus der Entenfamilie geworden ist, fragten wir uns. Ob sie sich im Enten-TV bei den Klimapropheten rechtzeitig über die Aussichten ihres «Planeten» Gedanken gemacht hat?
Ich weiss, als Mensch kann man die Welt nicht so gelassen hinnehmen wie Familie Ente. Schliesslich haben wir die Fähigkeit erworben, die Zukunft vorauszusehen – wenigstens ein bisschen. Also kaufen wir Kerzen, Batterien und plündern im nahen Wald die Holzbeigen, auch wenn unser Tun den Gletschern gar nichts und dem austrocknenden Tümpel auf Guldenen wenig helfen wird. Strahlt er nicht gerade deshalb für uns eine Art Frieden und wohltuende Zuversicht aus?
(1) U. Steger et al.: Nachhaltige Entwicklung und Innovation im Energiebereich, Wissenschaftsethik und Technologiefolgebeurteilung, Band 18, Springer, 2002