Nur ganz gute Gutmenschen konnten daran glauben, dass das in Europa angekommene Flüchtlingsheer nur aus netten, anständigen Menschen besteht.
Dass sich unter einer Million Flüchtlinge eben nicht nur artige und brave Migranten befinden, war anzunehmen. Auch unter einer Million Europäern leben nicht nur Artige und Brave.
... und die drehen durch
Da kommen junge Männer, die teils jahrelang unter Bomben lebten und eine anstrengende, entbehrungsreiche Flucht hinter sich haben. Sie lebten in einer Gesellschaft mit verhüllten Frauen – einer Gesellschaft mit teils archaischen Sitten und Gesetzen. Viele kommen aus Ländern, in denen Frauen ohnehin nichts gelten und als Freiwild betrachtet werden. Und unverschleierte westliche Frauen werden von islamischen Hasspredigern schon längst als Dirnen bezeichnet.
Und plötzlich stehen diese jungen Männer in einer offenen westeuropäischen Welt und sehen diese fröhlichen, hübschen, gutbekleideten Frauen und Mädchen – und drehen durch. Frauen und Mädchen übrigens, die sogar ohne Männer am Abend ausgehen.
"Zeitenwende"
Es gibt absolut keinen Grund, diesen jungen Männern, die in Köln und Zürich ihr Unwesen trieben, mildernde Umstände anzurechnen. Schon gibt es Psychologen, die das tun. Westeuropa hat diese Männer aufgenommen, was nicht selbstverständlich ist. Sie haben sich strikt an unsere Gesetze zu halten. Westeuropa tut gut daran, hart gegen diese Täter vorzugehen und sie zu bestrafen. Dies vor allem, um ein Zeichen zu setzen: so geht es nicht.
Die Täter haben erreicht, dass sich die Flüchtlingsdebatte null Komma plötzlich radikal verändert hat. Volker Bouffier, der Vize-Chef der CDU und hessische Ministerpräsident erklärte: „Köln hat alles verändert, die Menschen kommen ins Zweifeln“. Und der Spitzenkandidat der baden-württembergischen CDU, Guido Wolf, sprach gar von einer „Zeitenwende“.
Generalverdacht
Einige hundert enthemmte Männer haben es zustande gebracht, dass eine Million Migranten unter Generalverdacht stehen. Und vor allem haben die Täter erreicht, dass sich die rechtsradikalen Parteien ins Fäustchen lachen und Auftrieb haben. Die Übeltäter von Köln sind die besten Wahlkampfhelfer für die rechte „Alternative für Deutschland“ (AfD), für die „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) und den braunen Rassistensumpf.
Offenbar soll es auch rechtsradikale Frauen gegeben haben, die Strafanzeige gegen „arabisch aussehende Männer“ eingereicht haben, obwohl diese Frauen gar nicht am Kölner Hauptbahnhof waren. Fiese, miese Stimmungsmache. All das soll das Ausmass der Übergriffe in der Silvesternacht in keiner Weise verharmlosen.
Zwei Mal Opfer
Opfer sind zum zweiten Mal die rechtschaffenen Flüchtlinge: die riesige Mehrheit jener, die viel Leid erlitten haben und sich in Europa integrieren möchten. Viele von ihnen erlebten schreckliche Kriegstage, Hunger und Entbehrungen. Viele verloren Familienangehörige. Nicht genug: Jetzt stehen sie im Pauschalverdacht, sich nicht an die westeuropäischen Gesetze zu halten. Schon hört man Sätze wie „Seht diesen Syrer dort, ist er vielleicht nicht doch auch...“ Oder: „Wer Frauen attackiert, ist zu allem fähig...“. Schon längst werden „arabisch aussehende“ Immigranten als potentielle Terroristen verdächtigt. Jetzt gelten sie auch noch pauschal als Vergewaltiger.
Wie es weitergeht, weiss niemand wirklich. Natürlich wird jetzt die Forderung, die Grenzen zu schliessen und die Gesetze gegen ausländische Übeltäter zu verschärfen, noch lauter. Doch alle wissen, wie schwierig es ist, den Tätern, die im Halbdunkel agierten, harte Übergriffe nachzuweisen, die eine sofortige Ausweisung rechtfertigten. Deutschland ist ein Rechtsstaat und kann nur überführte und nicht „mutmassliche Täter“ bestrafen.
Aggressive Stimmung
In der Zwischenzeit wird die Stimmung immer aggressiver und vergifteter; schon kommt es zu wütenden Demonstrationen von Pegida-Anhängern und Gegendemonstranten, so am Samstag in Köln. Die Polizei hat zusätzliche 1'700 Beamte aufgeboten, um Zusammenstösse zu verhindern. „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda“, heisst es auf Transparenten. Auf der andern Seite der Strasse hielt eine Frau ein Plakat mit der Aufschrift: "Frau Merkel, Sie haben es geschafft, dass ich Angst habe um meine Kinder und Enkelkinder".
Doch es ist nicht nur der populistische Mob, der seine Stimme erhebt. Auch konservative Bürgerinnen und Bürger, die den Flüchtlingen sogar geholfen haben, fühlen sich plötzlich vor den Kopf gestossen. „Wenn noch mehr kommen“, heisst es auch in gemässigten Kreisen, „ist eine Integration nicht möglich“.
Für Kanzlerin Merkel und ihrer mutigen und humanitären „Wir-schaffen-das“-Politik stehen schwierige Zeiten bevor. Die Silvesternacht hat das Klima in Deutschland radikal und dramatisch verändert. Wer das nicht sieht, ist blind. Leidtragende sind jene, die am meisten Hilfe bräuchten.