Sie gehörte sozusagen zum Inventar im engen Briefing Room des Weissen Hauses. Dort sass sie bei Pressekonferenzen amerikanischer Präsidenten meist in der ersten Reihe und durfte aufgrund ihrer Seniorität die erste oder zweite Frage stellen. Und fast dreissig Jahre lang war sie es, die mit einem simplen «Thank you, Mr. President» die Briefings im Weissen Haus beendete – eine Tradition, die erst 2003 unter George W. Bush zu Ende ging.
Auf Distanz zur Staatsmacht
Amerikas 43. Präsident machte kein Hehl daraus, dass er Helen Thomas nicht mochte. Folglich nahm er drei Jahre lang von ihr keine Fragen mehr entgegen. Die Antipathie war gegenseitig. Die Journalistin hatte George W. Bush in einem Interview «den schlechtesten Präsidenten der amerikanischen Geschichte» genannt und ihn unmissverständlich für den Einmarsch der USA im Irak kritisiert. Sein Entscheid, sagte Thomas, habe den Tod Tausender Amerikaner und Iraker bewirkt, während sich jede Rechtfertigung für den Krieg als falsch erwies.
Doch auch «W»s Nachfolger gegenüber war sie, die sich als eingefleischte Liberale bezeichnete, nicht weniger kritisch. Nicht einmal Richard Nixon habe die Presse so zu gängeln versucht wie Barack Obama, sagte sie in einem Fernsehinterview. «Was zum Teufel denken die, was wir sind – Marionetten?», fragte Helen Thomas: «Sie sollen sich nicht in unser Geschäft einmischen. Sie sind unsere öffentlichen Bediensteten. Wir zahlen sie.» Kein Wunder, hatte Präsident Gerald R. Ford ihre Art der Berichterstattung einst als «eine feine Mischung aus Journalismus und Akupunktur» bezeichnet. Ein Pressesprecher nannte ihre Fragen «Folter».
Anders als vielen Korrespondenten im Weissen Haus, welche die Nähe zur Macht suchen, um ihre Karrieren zu fördern, und sich entsprechend anbiedern, ging es Helen Thomas nie darum, von einem Amtsinhaber geliebt zu werden. «Geh' nicht in den Journalismus, wenn du beliebt sein willst», sagte sie: «Oder such' dir einen anderen Job.»
Sie war überzeugt, dass es nicht zum Krieg im Irak gekommen wäre, wenn ihre Kollegen im Weissen Haus nicht so gutgläubig gewesen wären und der Regierung kritischere Fragen gestellt hätten. «Der Präsident wurde nicht hart genug gefragt, warum wir in ein Land einmarschieren mit Unschuldigen, die uns nichts getan haben», schrieb Helen Thomas im letzten ihrer vier Bücher. Dessen Titel: «Wachhunde der Demokratie? Das schrumpfende Washingtoner Pressecorps und wie es der Öffentlichkeit einen Bärendienst erwiesen hat».
Tochter eines analphabetischen Einwanderers
Dass sich Helen Thomas so stark für den Irak engagierte, hatte wohl mit ihrer Herkunft zu tun. Ihre Eltern waren 1903 aus einem Teil Syriens, der heute zum Libanon gehört, nach Amerika ausgewandert, wo sie in Winchester (Kentucky) als siebtes von neun Kindern zur Welt kam. Sie wuchs in Detroit auf, wo sie auch begraben werden wird. Ihr Vater George, ein Analphabet, ermutigte seine Kinder zu studieren, und so schloss Helen 1942 an der Wayne University in Englisch ab. In der Folge zog es sie auf der Suche nach einem Job nach Washington DC, wo sie erst, aber nicht lange, als Kellnerin arbeitete: «Ich habe nicht genug gelächelt.»
Sie fand eine neue Stelle bei der «Washington Daily News», wo sie auf der Redaktion als «copygirl», eine Art Mädchen für alles, jobbte, bis sie 1943 für 24 Dollar pro Woche bei der Nachrichtenagentur United Press (der späteren UPI) anheuerte, für die sie Radiomanuskripte schrieb. 1956 stieg sie zur Mitarbeiterin der Hauptstadtredaktion auf und erhielt vier Jahre später den Auftrag, für UPI über den Präsidentschaftswahlkampf von John F. Kennedy (JFK) zu berichten.
Nach JFKs Wahlsieg wechselte Helen Thomas als erste Agenturjournalistin mit einem Vollpensum ins Weisse Haus. Ihr Auftrag: über Jacqueline Kennedy zu schreiben, deren glamouröses Aussehen und Lebensstil die ganze Nation faszinierten. Die UPI-Korrespondentin stürzte sich mit Verve in ihren Job und folgte der First Lady so hartnäckig, dass diese sich beim Secret Service beklagte, «zwei seltsame, Spanisch aussehende Frauen» (Thomas und ihre AP-Kollegin Fran Lewine) würden ihr nachstellen. Helen Thomas zufolge bat Jackie Kennedy ihren Mann sogar, sich bei UPI dafür einzusetzen, die unbequeme Korrespondentin auf einen Überseeposten zu versetzen.
Männerbastionen geknackt
Doch Helen Thomas blieb in Washington DC. 1974, unter Präsident Richard Nixon, wurde sie die erste Bürochefin von UPI im Weissen Haus. Damit hatte sie in Washington DC, nach unermüdlicher Lobbyarbeit, zum dritten Mal eine traditionelle Männerbastion geknackt: als Korrespondentin im Weissen Haus, als erstes weibliches Mitglied des National Press Club sowie als erste Frau im Gridiron Club, einer exklusiven Journalistenzunft, dem man nur auf Einladung beitreten kann.
Ihre hartnäckigen Bemühungen um Gleichberechtigung waren 1959 sogar Nikita Chruschtschow nicht entgangen. Der sowjetische Premier weigerte sich, im National Press Club aufzutreten, falls Frauen nicht zugelassen würden. Ausnahmsweise durften 30 Journalistinnen im Saal des National Press Building sitzen, um über Chruschtschows Rede zu berichten, in welcher der Gast aus Moskau dem Westen androhte: «Wir werden euch begraben.» Zwölf Jahre später nahm der National Press Club erstmals offiziell Frauen auf. 1972 begleitete Thomas als einzige Journalistin Nixon auf seiner historischen Reise nach China.
Unüberlegte Äusserungen zu Juden und Israel
Helen Thomas kündigte 2000 bei UPI, weil ein Medienunternehmen, das der Unification Church des südkoreanischen Sektenführers Sun Myung Moon nahe stand, die Nachrichtenagentur gekauft hatte. Die 80-Jährige wechselte als Kolumnistin zum Hearst News Service, wo sie bis 2010 blieb. Grund für ihren abrupten Abgang bei Hearst waren unüberlegte Bemerkungen, die sie bei einem Anlass im Weissen Haus einem Rabbi und Filmemacher gegenüber machte, der ihre Aussagen in der Folge publizierte.
Die Juden sollten, sagte Thomas auf die Frage, was sie über Israel denke, aus Palästina verschwinden: «Vergessen Sie nicht, diese Leute sind besetzt und es ist ihr Land.» Und wohin sollten die Juden gehen? «Zurück in die Heimat», wo sie her gekommen seien, «nach Deutschland, Polen und Amerika und überall sonst hin.»
Zwar entschuldigte sich Helen Thomas umgehend für ihre Bemerkungen. Doch der Pressesprecher des Weissen Hauses nannte ihre Worte «beleidigend und verabscheungswürdig». Die Kollegen von der White House Press Association indes stuften ihren Kommentar als «unverzeihlich» ein. Für etliche unter ihnen war die Kontroverse die Bestätigung dafür, dass Helen Thomas, Tochter syrischer Einwanderer, als Journalistin stets die Anliegen der Araber der Sicherheit Israels vorgezogen hatte. George W. Bushs Pressesprecher Tony Snow hatte einst auf eine ihrer direkten Fragen wie folgt geantwortet: «Ich danke Ihnen für den Standpunkt der Hisbollah.»
Unbequem, aber nicht respektlos
Doch Helen Thomas, inzwischen 90-jährig, konnte den Journalismus nicht lassen. Solange es ihre Gesundheit erlaubte, bis Anfang 2012, schrieb sie eine Kolumne für die wöchentliche Gratiszeitung «News Press» in Falls-Church (Virginia). «Sie ist weder heuchlerisch noch rassistisch oder antisemitisch», liess deren Besitzer verlauten: «Sie hatte ihre eigenen Ansichten, was die Aussenpolitik betrifft, aber das ist nicht unzulässig.» Einer Kollegin der «Washington Post» hatte Thomas seinerzeit anvertraut: «Ich glaube nicht, dass eine unbequeme Frage respektlos ist.»
Doch erst jetzt, mit ihrem Tod nach längerer Krankheit, hat sie den Wunsch jenes konservativen Präsidenten einer Denkfabrik erfüllt, der einmal fast verzweifelt gefragt hatte: «Will denn Helen Thomas, die frühere White House-Korrespondentin, überhaupt nie abtreten?» Sie hätte es schon früher tun können. Als in den 80er Jahren auf dem South Lawn des Weissen Hauses eine Zeder aus dem Libanon gepflanzt wurde, forderten Reporterkollegen sie auf, die zeremonielle Schaufel zu packen und Erde ins Loch zu schaufeln, um die Baumwurzeln zuzudecken. «Und während sie schaufelte», erinnerte sich später ihr Fernsehkollege Sam Donaldson, «hörte ich die Geister vergangener und gegenwärtiger Präsidenten flüstern: ‚Stösst sie hinein!‘»
Quellen: «The New York Times»; The Washington Post»; »The Los Angeles Times»; «The Guardian»; «Ms. Magazine», »The Huffington Post”; »The Daily Beast”; CNN