Wie man es auch dreht, wendet und erklärt, der chaotische Rückzug aus Afghanistan ist eine dröhnende Niederlage für die USA, die Nato, für Europa und für westliche Grundprinzipien überhaupt – die Rechte des Individuums einschliesslich der Geschlechtergleichheit, den Rechtsstaat und die freie Marktwirtschaft. Gleichzeitig ist es ein Sieg für autoritäre Staaten, insbesondere China. Oder doch nicht?
Politischer Triumph?
China hat keinen Tag gezögert, um seinen Triumph voll auszukosten. Seine „Wolfsdiplomaten“ stimmten das bekannte schadenfreudige Geheul an, wonach mit dem Aufstieg des Ostens der Niedergang des Westens verbunden sei. Auf offizieller Ebene hat Beijing mit dem „Versprechen, den Willen des afghanischen Volkes zu respektieren“ signalisiert, dass es dem Land um eine möglichst rasche Aufnahme voller Beziehungen mit der Taliban-Regierung geht. Immer getreu dem Motto, die innere Ordnung eines Wirtschaftspartners gehe China nichts an. Dies in schroffem Gegensatz zum Prinzip des „nation building“, welches hinter westlichen Interventionen und letztlich auch der Entwicklungshilfe steht, einschliesslich jener der Schweiz.
Ob allerdings die politische Rechnung Chinas angesichts des islamischen Sendungsbewusstsein der Taliban aufgeht, bleibt abzuwarten. Ungeachtet von Versicherungen ihrer politischen Führung – auch diese weiss mittlerweile, was auf dem diplomatischen Parkett zieht – dürfte Afghanistan nun wieder vermehrt zum sicheren Hafen extremistischer islamischer Bewegungen werden. Chinas Westen, dominiert von der muslimischen und damit unterdrückten Provinz Xinjiang, ist exponiert, direkt via die kurze gemeinsame Grenze, indirekt via die notorisch porösen Grenzen In Zentralasien und Pakistan.
Strategischer Gewinn?
Ein westlicher Dominostein ist mit dem Debakel in Afghanistan aber wohl gefallen. Die zentrale eurasische Hürde in amerikanischer Hand auf dem Weg der BRI (Belt and Road Initiative) von China nach Europa ist weg, was den ja letztlich strategischen und nicht wirtschaftlichen Zielen hinter dieser „Neuen Seidenstrasse“ Auftrieb verleihen wird.
Allerdings könnte sich auch hier die Kehrseite der Medaille für Beijing bemerkbar machen: Angesichts des im BRI-Kontext üblichen Einsatzes nicht nur von Finanzen und Material, sondern auch chinesischer Arbeitskraft – Schweinefleisch essende Ungläubige –, wird China auch in Afghanistan einen schweren Fussabdruck hinterlassen, ob es das nun offiziell will oder nicht.
KP und Koran
Bei näherer Betrachtung zeigt sich überraschende Parallelität zwischen der fortdauernden Ideologie in China und dem wieder auferstandenen Dogma der Taliban in Afghanistan. Unter dem Mantel von Kommunismus in China und jenem eines radikalen Islams im Land der „Koranschüler“ (=Taliban) werden unbedingter Gehorsam gegenüber der politischen Macht im Lande gefordert. Ausnahmen sind möglich – in China mit Blick auf die Marktwirtschaft, in Afghanistan zur Besänftigung ausländischer Geldgeber – sie sind aber temporärer Natur und werden brutal gestoppt, wenn es die politische Führung so will. Wie in China das harte Vorgehen der KP unter Führung von Xi-Jinping gegen wichtige Teile der eigenen Wirtschaft (Technologie- und Ausbildungsbranchen) seit einigen Monaten zeigt. Und wie der gebetsmühlenartige Wiederholung der Taliban zu entnehmen ist, dies und jenes sei weiterhin erlaubt, „solange unsere muslimische Auffassung nicht verletzt“ werde. Letztere orientiert sich aber an einer mittelalterlichen Interpretation des Korans, rächend, frauenfeindlich und auf die Errichtung eines islamischen Kalifats auch über Ungläubige ausgerichtet.
Bislang wenig beachtet ist weiter der zweite Hauptzweck des unbedingten Herrschaftswillens in Beijing und in Kabul. Neben Macht geht es auch um Geld. Die unerbittliche Beobachterin Anne Stevenson-Yang in Beijing hat vor kurzem zur wahren Motivation der chinesischen Reformagenda festgestellt, es gehe auch darum „einen Teil des Geldes aus dem Ausland in die Taschen der (KP-)Parteiführung zu stopfen“. Gleichermassen wäre man wohl naiv, anzunehmen, Korruption habe in Afghanistan lediglich auf Seiten der ehemaligen Regierung Afghanistans grassiert.
Das westliche Chinageschäft
Die Finanzmärkte als sensibler Gradmesser des gesamten Wirtschaftsgeschehens haben auf den amerikanischen und westlichen Rückzug aus Afghanistan kaum reagiert. Dies ungeachtet der Tatsache, dass es sich um den längsten und einen der teuersten Kriege in der Geschichte der USA gehandelt hat und damit ein weitere Markstein auf dem Weg zur „post-US world“ gesetzt worden ist. Mittelfristig dürften die Märkte aber sehr wohl reagieren. Der Aufstieg Chinas bedeutet nämlich nicht notwendigerweise die ungestörte Ausweitung des westlichen Chinageschäfts.
Zur Unsicherheit der erwähnten, rein politisch bedingten Eingriffe Beijings in die eigene Volkswirtschaft gesellt sich nun ein zunehmendes Risikoelement in der Folge der chinesischen Wirtschaftsexpansion, auch und gerade via BRI, in unsichere Länder. Auch wenn man über den zutiefst amoralischen Charakter dieser Expansion – wie sie in Beijings geschmeidigem Verhalten gegenüber der neuen Regierung in Kabul erneut manifest geworden ist – hinwegsieht, bleibt doch die Aussicht auf eine erneut zunehmende Welle von Wirtschaftssanktionen der USA, der EU, allenfalls mittelfristig sogar der Uno gegenüber einer Talibanregierung, welche wie der berühmte Tiger seine Streifen kaum wirklich abwaschen wird, sondern weiter am langfristigen Ziel eines Kalifats festhält.