«Der Ausbruch der Zürcher Kulturszene der 70er Jahre und seine verkannte internationale Wirkung» – Darüber spricht Tim Guldimann mit Bice Curiger und Stefan Zweifel.
In den 70er Jahren und rund um die beiden prägenden Ausstellungen «Frauen sehen Frauen» (1975) und «Saus & Braus» (1980) entstand in Zürich eine einmalige Kulturszene. Dabei fanden sich die vielfältigsten Kreativbereiche spontan zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Sie erfanden neue Kulturformen, waren sexuell-befreit, queer und transgender, dilettantisch, spontan, ironisch und momentbezogen und zwangen dieser «verstockten, verhockten Gesellschaft», so der Philosoph Stefan Zweifel, ein neues urbanes Selbstverständnis auf. – Zürich war Avantgarde.
Die Kuratorin Bice Curiger erzählt: «Angefangen hat es mit unserem Panzerknacker-Ballett (…) Das war sehr schräg, sehr wild, sehr humorvoll und super feministisch (…). Es war einfach die Zeit, die reif war, es war ein riesiger Echoraum da (…) und schon kam das Fernsehen.» Im Kunstmuseum Luzern, so Curiger weiter, gab es schon 1975 «wahrscheinlich weltweit die erste genderthematische Ausstellung von Jean-Christoph Ammann ‘Transformer‘». Zum neuen Geschlechterverständnis sagt Stefan Zweifel: «Ich habe meine Mutter und meinen Vater nicht als Mann oder als Frau wahrgenommen, sondern als eigenständige kreative Köpfe. (…) Das Festlegen auf eine Identität, auf eine Geschlechterrolle, das war etwas, was man vom Kindergarten her schon abgelehnt hat. (Die Geschlechterrolle) war für mich dann (aber später) immer auch eine Frage wegen AIDS, das war dann schon eine traumatisierende Epoche. (…) Die Sexualität war eigentlich belastet.»
Zu den politischen Konflikten im Vorfeld des Ausbruchs der Kulturszene sagt Zweifel: «Die Leute wurden ja wirklich von der Polizei überwacht (…) Wenn ich diese Fichen der Bundespolizei sehe. Peter Stein, Bruno Ganz, alle diese Schauspieler, die 1968/69 am Schauspielhaus tätig waren, wurden überwacht. (…) Da wurden harte Kämpfe schon 1968 ausgefochten. (Daraus entstand) letztlich auch die Möglichkeit für diese Befreiung. (… Die) Stadt war genau klein genug, dass sich diese Grenzüberschreitung, diese Interdisziplinarität (…) sozusagen spontan ergab aus einem gemeinsamen Interesse, wo alle mitmachen mussten: Die Architekten, Schauspieler, in der Musik, in der Kunst, um diese Stadt zum Tanzen zu bringen (…) mit den Slogans, die an den Dadaismus anknüpften. (…) Zürich ist die Stadt des Dadaismus. (…) Und das führte dann zur Street-Parade und zur Techno-Szene. Deshalb ist Zürich dann auch zur grossen Techno-Stadt geworden. Das ist eine direkte Linie, aus dieser Bewegung heraus und diesem Versuch, im Untergrund Freiräume zu finden. (…) Das hat dazu geführt, dass Zürich so eine Partystadt geworden ist mit all ihren auch schrecklichen Abgründen der Drogenszene.»
Zur Frage, ob von Zürich etwas ausgegangen sei, was die internationale Kunst- und Kulturwelt beeinflusst habe, sagt Curiger: «Anfangs Nullerjahre kam ein sehr prominenter Kunstkritiker in New York auf mich zu und sagte: ‘Warum hat diese kleine Schweiz so viele gute Künstler?‘. Das muss mir ein New Yorker sagen, aber in der Schweiz hat man das gar nie besonders wahrgenommen. (…) Man muss natürlich sehen, dass diese Generation mit Fischli/Weiss, Pipilotti Rist, auch Markus Raetz die erste Generation ist, die nicht hat emigrieren müssen, um international eine Karriere aufzubauen», im Gegensatz zu Giacometti, Tinguely oder Meret Oppenheim.
Zweifel erwähnt dazu Christoph Marthaler, der seine Karriere in Zürich mit seinem Zirkus auf dem Lindenhof startete und «dann das Theater in Berlin absolut revolutioniert» habe, und nennt weitere Künstler wie Urs Fischer als einen der bedeutendsten Gegenwartskünstler, der in NY lebt: «Das sind schon extreme Raketen (…), man nimmt (in NY oder Hamburg) nicht unbedingt wahr, dass die von hier kommen. Aber wenn da jemand genauer hinschaut, dann sieht er schon, dass hier eine Kaktus-Explosion stattgefunden hat.»
Journal21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.