Er sei heutzutage uncool, längst «ausgesehen», zum Wohlfühl-Accessoire verkommen. So was wie Chagall-Begeisterung gilt unter Kunstkennerinnen und Vernissagebesuchern, die sich ganz vorne dabei wähnen, als deplatziert, wenn nicht gar peinlich. Speist sich die ästhetische Kompetenz wesentlich aus der Distanz zum Massengeschmack, so dürfte ein solches Urteil dem Selbstwertgefühl durchaus dienlich sein.
Zweifellos ist Chagall einer der beliebtesten Maler überhaupt. Viele seiner Bilder gehen den Betrachtern ohne Umschweife zu Herzen. Sie sind prima vista verständlich, werden ganz einfach und von fast allen als «schön» empfunden. Wie banal!
Neue Sicht auf ein altbekanntes Oeuvre
Diesem Marc Chagall (1887-1985) widmet das Zürcher Kunsthaus seine erste grosse Ausstellung dieses Jahres. Es tut dies mit der erklärten Absicht, festgelegte Urteile und Meinungen zurechtzurücken, und zwar auf beiden Seiten: bei den einen, die über ihn hinaus sind, und den anderen, die ihn allzu leicht konsumieren. Damit geht das Kunsthaus auf Nummer sicher: Die enorme Popularität des Malers garantiert den grossen Publikumserfolg, auf den das Haus angewiesen ist. Gleichzeitig aber erlaubt die Fokussierung auf das Frühwerk, dem Phänomen Chagall neue Facetten abzugewinnen – und so den für das Renommee eines grossen Museums unabdingbaren Neuheitswert und Erkenntnisgewinn zu schaffen.
Moische Zacharowitsch Schagalow wuchs im chassidischen Milieu der russischen (heute weissrussischen) Stadt Witebsk auf. Zeitlebens hat er in seinen Bildern diese Welt evoziert: das einfache Leben in Dörfern und Hütten, die Silhouette des Städtchens Witebsk, die jüdischen Rituale und ländlichen Bräuche. Wer die Herkunft Chagalls aus solchen Sujets erschliesst, versteht aber nur die Hälfte. Zwar blieb er sein Leben lang im chassidischen Judentum verwurzelt. Sein Werk ist durchtränkt mit dieser Kultur, quillt über von deren Geschichten, atmet jüdischen Geist, verzehrt sich in Sehnsucht nach einem untergegangenen mythischen Russland.
Diese eine Hälfte der russisch-jüdischen Prägung Chagalls ist hinreichend bekannt. Die Zürcher Schau legt nun aber einen Blick auf das überraschend moderne Witebsk nahe, an dem Chagall einen eminenten Anteil hat. Das ist die andere, im Unterschied zur ersten kaum bekannte Hälfte seiner russischen Prägung.
Jahre der Selbstfindung in Paris
Nach künstlerischer Ausbildung und ersten Erfolgen in Witebsk und St. Petersburg zog der junge Schagalow 1911 nach Paris. Der Kulturschock war ungeheuerlich. Kubismus und Fauvismus stürmten auf ihn ein, er lernte die Werke van Goghs, Cezannes, Gauguins und all der Modernen kennen, studierte in den Museen die alten Meister. Bald schon freundete er sich mit dem gleichaltrigen Maler Robert Delaunay sowie mit den Dichtern Guillaume Apollinaire und Blaise Cendrars an.
Die vier Pariser Jahre lebte er im schöpferischen Rausch und arbeitete wie ein Besessener. Doch bei all den überwältigenden Eindrücken und Einflüssen entwickelte er mit erstaunlicher Konstanz seine eigene Bildsprache. Versuche mit kubistischen, fauvistischen und orphistischen Malweisen erscheinen in seinem Oeuvre wie Exkurse, von denen er wohl einige Elemente mitnahm, sie aber sogleich seiner unverwechselbaren Handschrift assimilierte.
Zurück in Russland
Als der 27jährige Chagall 1914 nach Russland zurückreiste, war er eine reife und anerkannte Künstlerpersönlichkeit. Geplant war ein dreiwöchiger Besuch in der alten Heimat, doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs hielt ihn in Witebsk fest. Es kam die Oktoberrevolution von 1917. Sie brachte den russischen Juden zum ersten Mal volle Bürgerrechte. Chagall war begeisterter Parteigänger der Bolschewiken und wurde 1918 zum Kommissar der Schönen Künste für die Region Witebsk ernannt. In dieser Funktion gründete er in der Heimatstadt das Museum und die Schule für Volkskunst, wobei er letztere selbst leitete. Als Lehrer engagierte er unter anderem El Lissitzky und Kasimir Malewitsch.
Da horcht man natürlich auf: Chagall versammelte tatsächlich die Spitze der russischen Avantgarde in Witebsk. Der Ort war schon vorher kein verschlafenes Nest gewesen. Man lasse sich nicht täuschen von der Putzigkeit mancher Witebsk-Ansichten auf Chagalls Bildern! In der Handelsstadt mit 80'000 Einwohnern waren Russisch, Jiddisch, Litauisch und Polnisch geläufig. Die Bevölkerung setzte sich etwa zur Hälfte aus orthodoxen, unierten, protestantischen und katholischen Christen zusammen; die übrigen waren Juden. Witebsk zählte über siebzig Synagogen und Bethäuser. Die multiethnische und multireligiöse Stadt pflegte ein reiches kulturelles Leben mit Konzerten, Kinos, Ausstellungen und verschrieb sich mit Begeisterung dem Fortschritt. Es wurde fieberhaft gebaut: ein Theater, ein Bahnhof, zudem Lyzeen, Hotels, Banken. Witebsk hatte eine der ersten Strassenbahnen Russlands.
Revolutionäre Avantgarde in Witebsk
Nach Revolutionswirren und Bürgerkrieg herrschten in den russischen Grossstädten schreckliche Lebensbedingungen; das unversehrte Witebsk wurde zum Zufluchtsort und kulturellen Zentrum. Die Namensliste der Kunstschaffenden und Intellektuellen, die sich hier zwischen 1917 und 1922 einfanden, liest sich wie ein Who is who der kulturellen Elite Russlands. Witebsk war in diesen Jahren nicht nur eine Hauptstadt der Künste, sondern auch ein Laboratorium der Moderne.
Die russische Revolution war in ihrem Ursprung begleitet von phänomenalen Aufbrüchen in bildender Kunst, Gebrauchsgrafik, Musik, Literatur, Theater, Film, Architektur. Die künstlerischen Experimente und Neuerungen wurden verstanden als Lebenselemente und Fackelträger des politisch-gesellschaftlichen Umbruchs. Doch mit der rücksichtslosen Durchsetzung der marxistisch-leninistischen Doktrin wurde auch die Kunst diszipliniert und rigoros in den Dienst der Revolution gestellt. Die bildnerische Avantgarde, zu deren Exponenten Lissitzky und Malewitsch zählten, wurde in jenen Jahren ideologisch kanonisiert.
Chagall sah sich unvermittelt in der Aussenseiterrolle. Wie Jahre zuvor in Paris unternahm er zwar explorierende Exkurse in die fremden Welten, mit denen er konfrontiert war – die Zürcher Ausstellung zeigt Produkte dieser Rencontres – aber es ist offensichtlich, dass Chagall die Auseinandersetzung mit den Prinzipien der bildnerischen Abstraktion eher defensiv angeht.
Entscheidung für das erzählende Bild
Was ihm vom Konstruktivismus und Suprematismus her entgegentrat, vermochte er, anders als die Entdeckungen des Kubismus, Fauvismus und Orphismus in Paris, seiner Kunstauffassung nicht anzuverwandeln. Von der Abstraktion kann man eben nicht einzelne Elemente übernehmen; sie führt zu einem grundlegend neuen Bildverständnis. Inhalte im Sinne von Referenzen auf Personen, Schauplätze, Objekte, Geschichten, Mythen, Träume, Emotionen sind aus den Bildern verbannt. Deren Rolle geht über an inhaltsleere, daher «abstrakte» Formen. Die «Bedeutung» eines Werks erwächst nicht mehr aus dem Zusammenspiel von Inhalten, bildnerischen Konventionen und Formen der Bildorganisation, sondern aus dem reinen Spiel der Formen.
Dieser Kehrtwende hat Chagall sich verweigert. Als er in Witesbk mit seiner Kunstschule zum Jahrestag der Revolution den Auftrag erhielt, die Stadt festlich zu schmücken, griff er auf seine Bildwelt zurück und stellte Geiger auf Hausdächer, liess grüne Esel über den Alleen schweben. Das war den Genossen Lissitzky und Malewitsch zu verspielt, zu wenig revolutionär. Es kam zum Zerwürfnis. Chagall wich zunächst nach Moskau aus, wo er das Jüdische Theater mit einem Zyklus grossformatiger Bilder – sie sind im Kunsthaus effektvoll präsentiert – ausgestaltete. 1922 gelingt es ihm, Russland zu verlassen. Für immer.
Nach der Witebsker Zeit gibt es in Chagalls Werk keine Exkurse mehr auf das ihm fremd gebliebene Terrain der Abstraktion. Vielmehr hegt und pflegt er lebenslang einen visuellen Erzählkosmos, in dem seine Herkunft, seine Traum- und Phantasiewelten sich vermengen mit surrealen Verfremdungen und poetischem Zauber. Konservativ ist er bei Inhalten und grundlegender Bildauffassung, frei experimentierend bei Farbgebung und Organisation des Bildraums.
Bruchlose künstlerische Entwicklung
Es war eine kluge Entscheidung der Kuratoren Simonetta Fraquelli und Tobia Bezzola, dem Concerto der frühen Bilder eine Coda mit Werken aus späteren Perioden anzufügen. Sie belegen die Konstanz der künstlerischen Entwicklung eindrücklich.
Die Zürcher Ausstellung ermöglicht einen Blick auf diesen im Sturm der Moderne bemerkenswert gradlinigen künstlerischen Lebensweg. Chagall hat, nachdem er sich mit den Abstrakten auseinandergesetzt hatte, bewusst an seiner narrativen Malerei festgehalten. Er ist jedoch kein Peintre naïf, sondern er reflektiert seine Arbeit und weiss seine bildnerischen Entscheidungen zu begründen und im Kontext der modernen Malerei zu verorten. Diesen Marc Chagall in Zürich zu entdecken, ist eine inspirierende Erfahrung.
Kunsthaus Zürich: Chagall – Meister der Moderne, 8. Februar bis 12. Mai 2013, Katalog (Buchhandel): 195 S., Fr. 55.--, ISBN 978-3-7757-3464-6 (Museumsausgabe: Fr. 48.--)
Informationen über Witebsk verdanke ich dem Essay des Historikers Karl Schlögel «Die erste Stadt der neuen Welt. Wie Witebsk in Weissrussland für einen historischen Augenblick zur Metropole der Moderne wurde». Die Zeit, 19.1.2006