Das Regime in Teheran hat nach der Tötung des Hamas-Leaders eine strenge Bestrafung Israels angekündigt. Für alle Beteiligten und die Region steht viel auf dem Spiel. – Eine Auslegeordnung der Optionen und Risiken und eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeiten.
Die gezielte Tötung von Ismail Hanija in Teheran hat der iranischen Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass das Regime weder die Sicherheit im eigenen Land noch die seiner engsten Verbündeten garantieren kann. Die Revolutionsgarden haben sich einmal mehr als Schwachstelle im System der Islamischen Republik erwiesen. Regimegegner sind zunehmend davon überzeugt, dass das Regime gestürzt werden könnte, wenn geeignete Mittel gefunden würden, die führenden Figuren auszuschalten. In dieser Situation bleibt dem Regime nur die Flucht nach vorne: Die Revolutionswächter müssen sich rehabilitieren, der Öffentlichkeit muss gezeigt werden, dass das Regime fest im Sattel sitzt, und die arabischen Verbündeten müssen enger an das Regime gebunden werden.
In der Logik des Systems wäre nur eine effiziente und harte Vergeltung eine angemessene Reaktion. Diese müsste aber «iranisch» sein. Das bedeutet, dass es aus Sicht des Regimes wenig Sinn macht, die Vergeltung der Hisbollah dem Libanon zu überlassen. Aber auch die Szene vom April, als die Revolutionsgarden rund 170 Drohnen, über 30 Marschflugkörper und mehr als 120 ballistische Raketen in Richtung Israel und die von Israel besetzten Golanhöhen schickten, von denen 99 Prozent abgefangen werden konnten, dürfte sich nicht wiederholen.
Russischer Support und interventionsbereite Verbündete
Sollte Israel dem Iran nicht mit einem Präventivschlag zuvorkommen, käme den regulären iranischen Streitkräften, die in den letzten Tagen erhebliche Mengen an Rüstungsgütern aus Russland erhalten haben, eine wesentliche, vielleicht sogar entscheidende Rolle zu. Diese würden sich aber nicht mit einer «symbolischen» Reaktion begnügen, sondern versuchen, ihre Kampfkraft einzusetzen. Das hiesse auch, Mittelstreckenraketen (Shahab 3, Sejjil) direkt gegen Ziele in Israel zu richten. Möglicherweise sind auch Kurzstreckenraketen und Lenkwaffen mit Reichweiten bis zu 700 km in Syrien oder im Irak stationiert und könnten zum Einsatz kommen.
Das Regime wird wissen, dass die Kosten eines Angriffs auf Israel enorm sein werden. Die militärische Reaktion Israels würde sich nicht auf einige Ziele im Iran oder in Syrien beschränken wie im April, als das iranische Luftverteidigungsradar zum Schutz des Atomkraftwerks Natanz zerstört, das Radar einer iranischen Boden-Luft-Raketenbatterie und ein iranischer Luftwaffenstützpunkt, der als Hauptziel galt, leicht beschädigt wurden.
Der April hat die iranische Militärführung auch gelehrt, dass die arabischen Anrainerstaaten, allen voran Jordanien und Saudi-Arabien, durchaus bereit und in der Lage wären, sich an Massnahmen zum Abfangen iranischer Raketen zu beteiligen. Dem könnte der Iran allenfalls dadurch begegnen, dass er sich stärker auf die Interventionsbereitschaft seiner Verbündeten im Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen verlässt. Hier haben sich die iranischen Koordinierungsbemühungen in der Vergangenheit jedoch als wenig erfolgreich erwiesen. Im Gegenteil, die Verbündeten werden nicht müde, ihre Unabhängigkeit gegenüber iranischen Direktiven zu demonstrieren.
Eskalationsrisiken
Angesichts der geringen Erfolgsaussichten von Vergeltungsschlägen könnten iranische Stellen versuchen, israelische Ziele ausserhalb Israels anzugreifen oder sogar politische Führungspersönlichkeiten selbst in Israel ins Visier zu nehmen. Der iranische Parlamentarier Mohammad Qassem Osmani hat kürzlich vorgeschlagen, den israelischen Premierminister Netanjahu als Akt der Blutrache zu töten.
Die israelische Regierung denkt ihrerseits darüber nach, iranischen Angriffen durch gezielte Präventivmassnahmen zuvorzukommen. Damit würde Israel zwar die Wartesituation beenden und die Schlagkraft der iranischen Streitkräfte massiv schwächen. Die Folgen wären jedoch unkalkulierbar. Die iranischen Verbündeten im Libanon, in Syrien und im Irak sähen sich im Falle einer Präventivaktion gezwungen, ihre innenpolitischen Interessen hintanzustellen und militärisch einzugreifen; die arabischen Anrainerstaaten sähen ihre Neutralität gefährdet und könnten sich gezwungen sehen, gegen eine israelische Luftraumverletzung vorzugehen; die russische Seite würde daraus ein grosses propagandistisches Spektakel machen, um zu zeigen, dass Israel und damit der Westen der eigentliche Feind des Völkerrechts sei. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die israelische Regierung dieses Risiko eingehen würde.
Moderatere iranische Rhetorik
Glaubt man der iranischen Propaganda, will das Regime die «regionalen Spannungen» nicht eskalieren lassen. Israel müsse aber zu gegebener Zeit «bestraft» werden, um, wie es heisst, «weitere Instabilität zu verhindern».
Nach anfänglich kriegerischer Rhetorik ist die iranische Regierung zu einer moderateren Interpretation des Konflikts übergegangen. Zwar wird weiterhin betont, dass die gezielte Tötung eines Staatsgastes auf iranischem Territorium eine Verletzung der iranischen Souveränität darstelle, doch wird das Attentat nicht als bewaffneter Akt angesehen, der das Recht auf Selbstverteidigung begründen würde. Diese Interpretation liesse dem Iran theoretisch die Möglichkeit offen, den Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. Dies hätte aus iranischer Sicht den Vorteil, dass der ideologisch vorherbestimmte Konflikt mit Israel um Jerusalem durch ein solches Ereignis nicht vorzeitig ausbrechen würde, sondern erst dann, wenn Iran sich dafür gerüstet sieht.
Dies würde dem Regime auch die Möglichkeit eröffnen, die dringend erwartete Reform des Militärapparates der Revolutionsgarden in Angriff zu nehmen und die Fehleranfälligkeit sowohl in der Befehlskette als auch in der Waffentechnik zu reduzieren. Natürlich wäre damit die eingangs beschriebene Problematik nicht gelöst, aber das Regime würde versuchen, sein Gesicht zu wahren und eine Art Akzeptanz in der iranischen Öffentlichkeit zu erreichen.
Letztlich handelt es sich auch im Iran um eine rein politische Entscheidung. Das letzte Wort hat der iranische Revolutionsführer Khamenei. Von ihm wird es abhängen, ob und in welchem Ausmass es von Iran aus zu einer militärischen Eskalation kommt. Auch Khamenei wird die hier beschriebenen Bedingungen nicht ignorieren können, aber er wird seine Entscheidung letztlich nicht losgelöst von der religiös-ideologischen Programmatik treffen, die das gesamte System der Islamischen Republik trägt.