Die am 17. April vom Chinesischen Nationalen Statistischen Amt veröffentlichten Zahlen zum ersten Quartal sind tiefrot. Nach einem dramatischen Zusammenbruch in den ersten zwei Monaten des Jahres stand Chinas Wirtschaft auch im März unter grossem Druck. Das Brutto-Inlandprodukt (GDP) für die ersten drei Monate beläuft sich auf 20,65 Billionen Yuan, umgerechnet 2,9 Billionen US-Dollar.
Das sind 6,8 Prozent weniger im Vergleich zum Vorjahr. Der Dienstleistungssektor, sechzig Prozent des GDP, ist um 5,2 Prozent eingebrochen, der Industriesektor um 8,4 Prozent. Der Einzelhandel verzeichnet ein Minus von 19 Prozent. Der Aussenhandel ist um 6,4 Prozent gegenüber der Vergleichsperiode im Vorjahr eingebrochen.
Wanderarbeiter
Die städtische Arbeitslosigkeit wird vom Nationalen Statistischen Amt im Quartal 1 mit 5,9 Prozent angegeben, wobei die Wanderarbeiter nicht eingerechnet sind. Von den rund 250 Millionen Wanderarbeitern konnten bislang je nach Schätzung zwischen fünfzig und hundert Millionen wegen der noch immer bestehenden Reiserestriktionen nicht an ihre Arbeitsstellen zurückkehren. Das Durchschnittseinkommen der Chinesinnen und Chinesen hat sich im Vergleich zum Vorjahr um 3,9 Prozent verringert, auf dem Lande gar um 4,7 Prozent. Der Konsumentenpreisindex CPI belief sich im März noch auf plus 4,3 Prozent nach 5,2 Prozent im Februar.
Gute Nachrichten verbreitet die Zentrale in Peking über die anstehenden Ernten. Für Weizen, Mais und Reis sind die Prognosen sehr gut. Der Eigenverbrauch Chinas ist gesichert. Wang Bing vom Handelsministerium beruhigt besorgte Bürgerinnen und Bürger. Vor Mangel müsse sich niemand fürchten, ebenso wenig vor Preiserhöhungen. Also kein Grund, so Wang, für Panikkäufe.
Wachstumsziel
Die wirtschaftliche Situation war insgesamt noch nie derart unter Druck wie seit 1976 am Ende der Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966–76). Das jährliche Wachstumsziel ist zwar von der Regierung noch nicht definiert, weil der normalerweise ab 5. März tagende Nationale Volkskongress (Parlament) der Epidemie wegen auf unbestimmte Zeit verschoben worden ist. Vor Corona rechneten die Partei-Ökonomen wohl mit einer Bandbreite von 5,5 bis 6 Prozent, nach einem Wachstum von 6,1 Prozent im Jahre 2019. Zur Erreichung der beiden grossen, von der allmächtigen Kommunistischen Partei für 2020 gesetzten Ziele – Verdoppelung des GDP von 2010 und Sieg im Kampf gegen die Armut – bräuchte es ein Wirtschaftswachstum von 5,6 bis 5,7 Prozent.
Unter normalen Umständen wäre dies ohne Probleme möglich gewesen. Doch diese Zahlen sind nun Schall und Rauch. Das Beratungsunternehmen Oxford Economics geht für China im Jahre 2020 von einem Wachstum von plus einem Prozent aus. Der Internationale Währungsfonds IMF, der noch Anfang Jahr das Wachstum Chinas mit 6 Prozent bezifferte, geht jetzt nur noch von plus 1,2 Prozent aus.
„Heftig und empfindlich“
Der grösste, kraftvollste Motor der Weltwirtschaft kommt nun also ins Stottern. Der chinesische Anteil am weltweiten GDP-Wachstum betrug 2019 knapp 40 Prozent und der Anteil am Welt-GDP belief sich auf 19 Prozent. Der Vize-Gouverneur der Chinesischen Volksbank (Notenbank), Liu Guoqiang, macht denn auch klar: „Der vom Ausbruch der Epidemie verursachte Schock für die globale Wirtschaft wird heftig und empfindlich sein.“
Im neuesten Report des IMF wird die Gefahr einer Weltrezession an die Wand gemalt mit -3 Prozentpunkten schlimmer als die grosse Depression der 1930er Jahre. Für Chinas Wirtschaft hingegen ist Liu optimistischer. Die positiven Signale im März, so Liu, deuteten darauf hin, dass die Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft kurzfristig sein werden. Bei Lius Äusserung wird man unwillkürlich an Maos Diktum aus der Kulturrevolution gemahnt: „Grosses Chaos erzeugt grosse Ordnung.“
„Supergrosse Volkswirtschaft“
In Renmin Ribao (Volkstageszeitung), dem Sprachrohr der Kommunistischen Partei, wurde in einem Kommentar vom 23. März bereits die Vorteile einer „supergrossen Volkswirtschaft“ hervorgestrichen: „Die Beharrlichkeit, die Zähigkeit der chinesischen Wirtschaft ist unverändert geblieben.“ Die Wirtschaft habe zwar durch die Epidemie „schwere Schläge einstecken müssen, aber sie bleibt stabil und robust“. Kurz, der „Aufwärtstrend der chinesischen Wirtschaft wird durch den Schlag des Corona-Virus nicht verändert“.
Durch den Unterbruch der globalen Lieferketten allerdings ist die Nachfrage aus dem Ausland weggebrochen. Laut Volkstageszeitung haben 96,6 Prozent der grossen und mittelgrossen Unternehmen die Produktion wieder aufgenommen. Insgesamt sind in der ersten Hälfte April rund 80 Prozent der wirtschaftlichen Kapazität wieder am Laufen. Die Angebotsseite von China ist mithin wieder verfügbar. Doch ausser Hygiene- und Atemschutzmasken sowie Medikamenten wird nicht mehr allzu viel nachgefragt. Der Aussenhandel indes spielt für China im Unterschied zu früher keine entscheidende Rolle mehr. Betrugen die Exporte 2008 noch 32,6 Prozent des GDP, waren es im vergangenen Jahr gerade noch 19 Prozent. Davon wiederum gingen nur zehn Prozent in die USA und nach Europa.
Harmonie und Stabilität
In der Tat, mit der „supergrosse Volkswirtschaft“ hat China einen immensen Vorteil. Allerdings müssen sich Partei und Regierung vorsehen. Die immer wieder beschworene Harmonie und Stabilität des Landes wäre bei zu wenig Wachstum in grosser Gefahr. Schliesslich verspricht die Partei seit Beginn der Reform vor vierzig Jahren ein stetig besseres Leben für alle. Dieses Versprechen konnte bis anhin mit den hohen Wachstumszahlen immer eingehalten werden. Ist das mit 1 Prozent Wachstum auch noch möglich? Viel hängt von den kommenden Monaten ab. Wird es eine U-förmige Erholung sein oder noch besser eine V-förmige? Bei beiden Varianten wäre Harmonie und Stabilität in nicht allzu grosser Gefahr. Sollte sich jedoch ein wie immer geartetes L-förmiges Wachstum ergeben, dann ist Gefahr im Verzug.
Doch so weit wird es wohl kaum kommen. Schindler-CEO Thomas Oertli, stark präsent mit Schindler im attraktiven chinesischen Aufzugsmarkt, liess sich mit folgenden Worten zitieren: „China ist der erste Markt, der wieder zurückkommt und der boomt.“ Der supergrosse Markt und die meist sachgerechten Entscheidungen der für die Wirtschaft zuständigen Partei-Kader jedenfalls werden eine eher U- als L-förmige Erholung der Wirtschaft erreichen.
Kooperation
Der Verlauf der Wirtschaftskrise in China ist eine Warnung an die Welt. Globale Zusammenarbeit ist das Gebot der Stunde. Doch US-Präsident Trump, unbelehrbar durch Fakten wie immer, wird wohl an seinem von ihm entfachten Handelskrieg festhalten. Keine multilaterale Kooperation, America First eben. Zum Nachteil der USA und der Welt notabene. Auch der Rest der Welt, und vornehmlich Europa, waren und sind ja bereits zur Corona-Zeit nicht gerade besonders kooperativ untereinander, um es milde auszudrücken. Jeder für sich. Eine mögliche ökonomische Entkopplung in der Nach-Corona-Zeit wird China mit seinem grossen Markt deshalb sehr viel leichter verkraften als der Rest der Welt.