Das einstige Lehrer-Schüler Verhältnis ist längst Geschichte – sofern es überhaupt je ein solches gab, denn Lernende waren wir damals beide. Unterdessen sind wir beide pensioniert.
Gespräch über naturwissenschaftliche Grenzen hinaus
Seit einigen Jahren treffen wir uns regelmässig zu Wanderungen in Gegenden, welche in unserer jeweiligen Lebensgeschichte eine wichtige Rolle gespielt haben. Heute besuchen wir den Kanton Nidwalden, von wo Thomas nach seiner Schulzeit am Kollegium Stans einst ins „grosse Zürich“ aufgebrochen war. Wir haben zwar beide Physik studiert, uns danach den Umweltwissenschaften zugewandt, aber unsere Gespräche haben die einstigen disziplinären Fesseln gesprengt.
Sie handeln vom Leben und Sterben, von Glauben, Aberglauben, Zweifel und Suchen, von C. G. Jungs Psychologie, von Archetypen, Synchronizität und dem Paranormalen. Letzteres verbindet sich mit Thomas’ Herkunft in besonderer Weise, wurde doch vor gut 150 Jahren ein weit entfernter Urahn namens Melchior durch sein Spukhaus weit über Stans hinaus bekannt. (1)
Schon im Zug geht das Diskutieren los. Fast hätten wir vergessen, rechtzeitig die Taste „Halt auf Verlangen“ zu drücken. Heute sind wir allerdings nicht die einzigen, welche bei Niederrickenbach Station aussteigen. Vom engen, zwischen Bahn und Strasse eingezwängten Perron gelangt man durch eine Unterführung zur Seilbahn.
Hinauf nach Niederrickenbach
Die blaue Kabine füllt sich mit einem bunten Publikum – alles Einheimische, scheint mir. Mit meinem Basel/Zürich-Dialekt komme ich mir wie ein Fremder vor. Nur der Berner Sennenhund, der zwischen Schuhen, Skiern und einer mit Getränkedosen beladenen Palette, welche der Bahnbeamte im letzten Moment in die Kabine geschoben hat, unbeirrt seinen Platz verteidigt hat, schaut mich treu und ohne jene Distanz an, welche man als Auswärtiger manchmal zu spüren meint.
Über eine wilde Schlucht schweben wir in wenigen Minuten 700 Meter hinauf in eine andere Welt. Trotz des strahlenden Wetters erinnern die hohen Schneemauern daran, dass hier vor kurzem noch tiefster Winter herrschte.
Ich gestehe, ich war noch nie in Niederrickenbach und wusste auch nicht, dass es dort seit 1857 ein Kloster der Benediktinerinnen gibt, und schon gar nicht, dass die Ordensschwestern zwanzig Jahre später, als die katholische Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befürchtete, in der Schweiz würden alle Klöster aufgehoben, im Staate Missouri einen Ableger gegründet hatten, der bis heute existiert. Niederrickenbach sei schon seit dem 16. Jahrhundert als Wallfahrtsort für die Marienverehrung bekannt, lese ich in einer bebilderten Broschüre, welche in der Kirche „Unsere Liebe Frau im Ahorn“ aufliegt.
Der protestantisch erzogene Wanderer freut sich am ganz in Weiss gehaltenen schlichten Interieur des hellen Kirchenraums, welcher einzig mit einem geschnitzten Hochaltar und unzähligen Votivtafeln geschmückt ist. Sie legen Zeugnis ab, dass Maria hier oben am Berg sehr fleissig und erfolgreich gewesen sein und immer wieder in grosser Not geholfen haben muss. Eindrücklich ist eine Ex-voto-Tafel, welche von der glücklichen Heimkehr von Nidwaldner Jünglingen erzählt, welche 1799 als Soldaten nach Norden, an den marktgräflichen Hof verschachert worden sind, eine Kopie einer entsprechenden Tafel aus Einsiedeln.
Ein- oder Zweifränkler zur Belohnung
Vom Vorplatz der Kirche geht der Blick weit übers Land, ins Engelberger Tal und hinüber zum Pilatus. Thomas erzählt, wie er als Schüler jeweils an Wallfahrten habe teilnehmen „dürfen“: Start in Stans etwa um sechs Uhr in der Früh, zu Fuss betend bis Dallenwil, voran ein christliches Zeichen, die Steigung in stillem Gebet bis Niederrickenbach, dann Gottesdienst mit Bitten für gutes Gelingen (was auch immer) und danach für die Jugendlichen, die als Teilnehmende im Gegensatz zu den andern Schülern schulfrei hatten, als Belohnung zuerst einen Einfränkler und später, wohl wegen der Teuerung, einen Zweifränkler, verteilt vom Pfarrer hinter der Kirche. Das verdiente Geld hätten sie danach jeweils eiligst den Berg hinunter nach Stans an die Chilbi getragen. Als der Fünfliber zum Tarif wurde, sei er schon aus der Schule gewesen.
Im Hotel Pilgerhaus stärken wir uns mit einem währschaften Mittagessen und einem Glas Wein. Die Wirtin – natürlich irgendwie mit Thomas verwandt – wünscht uns einen guten Marsch. Von der Bergstation der Seilbahn führt ein schmaler Pfad dem Hang entlang nordwärts durch den stotzigen Wald. Hinter der kleinen Brücke über den Bleikigraben liegt tiefer Schnee auf dem Weg. Ein paar wenige Fussspuren versichern uns, hier sei auch schon einmal jemand weitergegangen.
Versinken im Schnee
Manchmal trägt der halb gefrorene Schnee unser Gewicht, dann wieder sinken wir bis zu den Hüften ein. Immer wieder müssen wir sorgfältig über Schneeberge klettern, welche nach Schneerutschen auf dem schmalen Weg liegen geblieben sind. Zum Glück habe ich meine Wanderstöcke mitgenommen; sie bewahren mich vom Sturz in den steilen Hang.
Nach einer knappen Stunde erreichen wir den Gibel, von wo eine gepfadete Alpstrasse ins Tal führt. Nun geht es stetig bergab. Es hat Platz, nebeneinander zu gehen, was das Gespräch erleichtert. Manchmal kommt uns, den Blick auf den Boden gerichtet, ein schwitzender Velofahrer entgegen. Mit dem Einfränkler in der Tasche und der Vorfreude im Kopf hätten sie nach der Wallfahrt diesen Weg jeweils in der halben Zeit zurückgelegt, meint Thomas.
In Grossschwanden umrunden wir das Teuftal, das sich von den Abhängen des Buochserhorns zum Talboden von Stans herunterzieht. Auf einer Bank gönnen wir uns einen Halt, unter uns der Flugplatz und die Pilatuswerke, und geniessen die wunderbare Aussicht auf Pilatus und Rigi, als plötzlich wie aus dem Nichts ein Mann neben uns steht, einen grossen Feldstecher umgehängt, Vollbart im Berglergesicht. Zuerst meinen wir, es könnte der Wildhüter sein. Was es hier an Tieren zu sehen gäbe, fragt Thomas.
Keine Luchse, Wölfe und Fremde im Land
Nein, der Wildhüter kann es nicht sein, das merken wir bald, als er über Luchse und Wölfe herzieht, welche nicht hierher gehörten. Mein Nidwaldner Freund wird sofort geduzt – er ist ja weder Luchs noch Wolf, sondern gehört hierher –, während er bei mir nicht so richtig weiss, soll er Du oder Sie sagen. Ich frage ihn, ob es die Baracken der einstigen Flugplatz Fliegerabwehr in Buochs noch immer gäbe, wo ich im Jahre 1962, als Ableger der überfüllten Kaserne von Emmen, meine Rekrutenschule absolviert hätte. Als alter Buochser sei er froh, dass diese rechtzeitig abgerissen worden seien, antwortet er, sonst hätten sie jetzt wohl eine Gruppe von Asylanten – äh, Asylsuchende – im Dorf.
Keine Luchse, Wölfe und Fremde im Land, Zürcher knapp geduldet – hier oben ist die Welt noch in Ordnung. Wir machen uns talwärts davon, suchen uns den Weg quer über die aperen Matten – später im Jahr wird das nicht mehr möglich sein – in Richtung der kleinen Kapelle von Waltersberg. An einer Stelle hat der Schatten eines Holzzauns zwei parallele Schneestreifen auf der Wiese zurückgelassen.
Erinnerung an die Nidwaldner Landsgemeinde
Bei Schinhalten überqueren wir die Engelberger Aa. Hier hätte früher eine gedeckte Holzbrücke gestanden, erinnert sich Thomas. Rechts von der Strasse liegt verloren der ehemalige Landsgemeindeplatz. Ich hatte ihn weit imposanter in Erinnerung und kann mir kaum mehr vorstellen, dass hier einst die Mannen des stolzen Standes Nidwalden über die Politik ihres Kantons entschieden hatten.
Im Jahre 1965 war ich mit meinem Vater, Jurist und Staatsrechtler, hierher gekommen. Er war Ehrengast, wurde doch an der Landsgemeinde über die weitgehend aus seiner Feder stammende neue Kantonsverfassung abgestimmt. Das waren noch Zeiten, als man sich eine Verfassung von einer einzelnen Person, nicht von einer fünfzigköpfigen Expertenkommission, schreiben liess.
Die einstige Mauer gegen die Obrigkeit
In einem grossen Bogen wandern wir durch die Ebene zum Kollegium, das heute die Kantonsschule beherbergt, vorbei am stattlichen Winkelriedhaus, in dem das Nidwaldner Museum untergebracht ist. Aber für einen Museumsbesuch haben wir keine Lust, mir ist der kleine Kanton heute auch ohne Museum ans Herz gewachsen. Durch die Schmiedgasse, wo früher die Handwerker residierten und sich in der Vergangenheit, so erzählt Thomas, in ihrer Strasse einst mit einer Mauer gegen die Obrikgeit abgegrenzt hätten, wandern wir, am ehemaligen Elternhaus von Thomas vorbei, zum Bahnhof.
Es ist mehr als drei Stunden her, dass wir das Pilgerhaus in Niederrickenbach verlassen haben, höchste Zeit, um mit einem Bier auf den Kanton Nidwalden und seine Menschen anzustossen.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Melchior_Joller