Bei den Parlamentswahlen in Libanon wurden die bisherigen Mehrheitsverhältnisse durchbrochen. Das libanesische Dilemma ist damit aber noch nicht gelöst.
Am 15. Mai ist in Libanon gewählt worden, 128 Parlamentssitze waren zu vergeben. Die grosse Verliererin dieser Wahlen ist die «Freie Patriotische Bewegung» von Präsident Micheal Aoun. Von den bisherigen 24 Sitzen hat sie deren 18 behaupten können. Das schwächt auch die mit Aoun verbündeten schiitischen Parteien Amal und Hizbullah.
Sie selbst blieben in der Gunst der Wählerinnen und Wähler allerdings relativ stabil, Amal verlor drei Sitze (neu 14), Hizbullah vermochte die bestehenden 13 Sitze zu halten.
Übertroffen wurde dieser Verlust nur von der Zukunfts-Partei von Saad Hariri, der den Anti-Hizbullah-Block in der Vergangenheit dominiert hatte. Hariri hatte im Vorfeld der Wahlen allerdings zu einem Wahlboykott aufgerufen, weshalb der Rückgang von 20 auf aktuelle 8 Sitze niemanden überraschte. Hariris Anhängerinnen und Anhänger zelebrierten ihre Wahlabstinenz, indem sie aufblasbare Wasserbecken in den Strassen aufbauten und darin plantschend den Wahltag an sich vorbeiziehen liessen. Wahlgewinnerin sind die christlichen «Forces Libanaises», die zusätzliche vier Sitze erringen konnten und neu 18 Abgeordnete stellen.
Christlich-schiitischer Machtblock geschwächt
Die libanesischen Parteien sind grösstenteils konfessionell geprägt: Hariris Zukunfts-Partei ist sunnitisch, die Freie Patriotische Bewegung und die mit ihr verfeindeten Forces Libanaises sind beide maronitisch-christlich geprägt. Entscheidend für die Politik der vergangenen Jahre waren aber die Zusammenschlüsse, die verschiedene Parteien über Konfessionsgrenzen hinweg untereinander eingegangen sind. Die Freie Patriotische Bewegung bildete zusammen mit dem Hizbullah, Amal und weiteren kleineren Parteien eine Allianz, mit der sie die Mehrheit im libanesischen Parlament stellten. Diese Mehrheit ist durch die Verluste der Aoun-Partei nun verlorengegangen.
Die Gewinnerin der Wahlen, die Forces Libanaises, hat die Freie Patriotische Bewegung als grösste christliche Partei im Parlament abgelöst. Sie ist, wie die anderen grossen Parteien auch, aus einer paramilitärischen Organisation hervorgegangen, die nach dem Ende des Libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990) demobilisiert worden war. Die konservative, rechts-nationalistische Partei inszeniert sich als Gegenpol zum Hizbullah, gar als Vertreterin des Wandels, der von den Protestbewegungen gefordert wird.
Erfolgreiche Protestparteien
Ab Oktober 2019 kam es zu Massenprotesten, die erst durch die Corona-Pandemie gebremst wurden. Demonstrantinnen und Demonstranten verschiedener Konfessionen zelebrierten das friedliche Zusammenleben und forderten eine Revolution: Sie lehnten nicht nur die mächtigen Parteien ab, sondern das gesamte an Konfessionen ausgerichtete politische System – und mit ihm die politische Elite, die das Land seit Ende des Bürgerkriegs dominiert hat.
Nun ist den Parteien, die aus den Protesten hervorgegangen sind, ein beachtlicher Erfolg gelungen. Über zehn Prozent der Stimmen bzw. 13 Sitze vermochten sie zu erringen, zwei davon überraschenderweise gar im stark durch Amal und Hizbullah dominierten Süden des Landes. Dazu kommen einige Sitze von Unabhängigen, die mit den Protesten sympathisieren.
Angesichts dieses Erfolgs stellt sich nun die Frage, ob die Protestparteien Königsmacherinnen werden wollen, indem sie eine Allianz mit bestehenden Parteien eingehen. Oder ob sie ihrer Systemkritik treu bleiben wollen und Allianzen ablehnen, dadurch aber auch weniger Einfluss auf die parlamentarischen Machtblöcke ausüben können. Oder ob sie, als dritte Möglichkeit, in den Strudel des konfessionellen Systems geraten und sich selbst doch wieder konfessionellen Parteien zuordnen.
Ablehnung des Systems – geringe Wahlbeteiligung
Wie tief die politische libanesische Krise reicht, zeigte sich an der geringen Wahlbeteiligung von 41%. Das Vertrauen in den Staat und das politische System sind an einem Tiefpunkt angelangt. Bei einer Umfrage von 2020 bezeichneten sich 96% der Befragten als «unzufrieden» oder «komplett unzufrieden» mit der Regierung (gegenüber 3% «zufrieden» und weniger als 1% «komplett zufrieden»). Beinahe die Hälfte der Befragten drückte den Wunsch aus, das Land zu verlassen, wobei die Korruption, die Sicherheitslage und politische Gründe als Hauptmotive genannt wurden.
Angesichts dieser Zahlen erstaunt es, dass der Erfolg der Protestparteien bei den aktuellen Wahlen nicht noch deutlicher ausgefallen ist. Laut libanesischen Beobachtern dürfte dies daran liegen, dass diese Parteien schlicht noch zu wenig bekannt seien. Selbst grosse Teile der Beiruter Bevölkerung kennen sie laut Umfragen noch nicht. Ausserdem sind die etablierten Parteien nach wie vor in der Lage, in den von ihnen dominierten Gebieten genügend Druck auf die Bevölkerung auszuüben, um ein ihnen genehmes Wahlresultat zu gewährleisten.
Ein weiterer Grund für die noch zurückhaltende Zustimmung zu den Protestparteien scheint darin zu liegen, dass diese noch kaum konkrete Pläne präsentiert haben, wie sie das dysfunktionale politische System überwinden wollen. Ihr Ideal lautet, die Bevölkerung nicht in verschiedene konfessionelle Gruppen einzuteilen. Alle sollen als Staatsbürgerinnen und -bürger gleichen Anteil am politischen System haben. Allerdings sind beträchtliche Teile der Bevölkerung nicht gewillt, auf die Staatsposten zu verzichten, die ihrer Gemeinschaft aufgrund des bisherigen Systems zustehen – trotz der Kritik, die sie an diesem System äussern.
Die falsche Demokratie
Libanon mit seinen 7 Mio. Einwohnern ist formal demokratisch. Die Parteien beanspruchen für sich, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu repräsentieren. So sind Strukturen entstanden, in denen die Eliten politische und wirtschaftliche Macht untereinander aushandeln. Dabei bereichern sie sich zwar selber massiv, ermöglichen ihren Anhängerinnen und Anhängern aber auch Zugang zu Staatsposten und gewährleisten die Infrastruktur in den entsprechenden Stadtteilen. Repräsentation und Klientelismus ersetzen auf diese Weise politische Partizipation.
Diese Machtstrukturen und die Unsicherheit, die mit ihrer Abschaffung einhergehen würde, dürften dazu beigetragen haben, dass Teile der Bevölkerung weiterhin zu den etablierten Parteien halten. Angesichts der verheerenden wirtschaftlichen Lage gewinnen solche traditionellen Netzwerke gegenwärtig sogar noch an Bedeutung. Der wirtschaftliche Kollaps in Libanon wurde 2021 von der Weltbank weltweit als eine der zehn, wahrscheinlich gar der drei schlimmsten Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts eingestuft.
Trotz solcher Abhängigkeiten: Die «falsche» Demokratie, dieses politische System, das sich an konfessioneller Repräsentation orientiert, muss dringend reformiert werden – darüber sind sich die meisten Libanesinnen und Libanesen einig.
Vom Wandel abgehängt
Die wirtschaftliche Misere führt das politische Versagen der Eliten deutlich vor Augen. Darüber hinaus aber ist das politische System auch nicht mehr in der Lage, die soziale Realität der Bevölkerung abzubilden. Offensichtlich hat in der libanesischen Bevölkerung ein sozialer Wandel stattgefunden, der sich insbesondere in Beirut und den umliegenden Gebieten zeigt. Patrons, die den Reichtum des Staates verwalten und ihren jeweiligen Gemeinschaften zukommen lassen – dieses System funktioniert nicht mehr. Weder wird es von der Bevölkerung akzeptiert, noch ist es in der Lage, die Aufgaben, die an den Staat gestellt werden, zu erfüllen.
Das System ist allerdings zu starr, um auf den Wandel durch einen Modernisierungsprozess zu reagieren. Die Eliten werden ihre Macht daher voraussichtlich nur noch durch eine Blockadehaltung und den zunehmenden Einsatz von Gewalt sichern können.
Einen alternativen Weg scheinen die Forces Libanaises (FL) zu wählen. Ihre bei den Parlamentswahlen erfolgreiche Kombination aus Systemkritik und rechtsgerichtetem Nationalismus erlaubt es ihren Anführern, den eigenen Machtanspruch neu zu begründen. Der Machtgewinn der FL dürfte bei den restlichen Eliten aber Widerstand hervorrufen. Bewaffnete Zusammenstösse im vergangenen Oktober zwischen FL-Kämpfern einerseits und von Amal und Hizbullah andererseits haben die erhöhten Spannungen deutlich gemacht und Erinnerungen an den Bürgerkrieg geweckt.
Hizbullah – zwischen Widerstand und Drogenhandel
Die vielleicht grösste Hürde für eine Reform des Systems ist der Hizbullah. Der schiitischen Partei gelang es als einziger Gruppierung, ihre Waffen nach dem Bürgerkrieg zu behalten – für den Widerstand gegen Israel, so die offizielle Begründung. Die libanesische Formel «Armee, Bevölkerung und Widerstand» legitimiert seither den Sonderstatus des Hizbullah und die Existenz einer zweiten militärischen Struktur neben den libanesischen Streitkräften. Die Partei ist darüber hinaus längst zu einem hybriden Akteur geworden und übt ihren Einfluss innerhalb und ausserhalb staatlicher Institutionen aus. Sie kontrolliert nicht nur die Grenze zu Syrien, sondern auch Teile des Hafens von Beirut.
Dadurch kann sie unbekümmert Waffen ins Land bringen oder in Drittstaaten weitervermarkten wie auch Drogen exportieren, ohne dass der libanesische Staat eingreifen könnte. Der Drogenhandel ist eine der wichtigsten Funktionen, die der Hizbullah für die verbündete Regierung in Syrien erfüllt. Die Einnahmen aus dem Handel mit der in Syrien produzierten Droge Captagon gehört zu den wichtigsten Finanzierungsquellen des dortigen Regimes.
Das libanesische Dilemma
Im Libanon überlagern sich also gleich mehrere Problemlagen. Erstens treffen die Wirtschafts-, Versorgungs- und Währungskrise die Menschen im Alltag mit voller Wucht. Medikamente, gar Lebensmittel sind für weite Teile der Bevölkerung nur schwierig zu beschaffen, die einst breite Mittelschicht verarmt. Zweitens steckt das politische System in einer Legitimationskrise. Drittens blockieren sich im Parlament ein Pro- und ein Anti-Hizbullah-Lager, wodurch selbst die dringendsten Reaktionen auf die missliche Wirtschaftslage verhindert werden.
Diese unterschiedlichen Ebenen verstärken sich gegenseitig. Die libanesische Zeitung L’Orient le Jour hat das daraus entstehende Dilemma auf den Punkt gebracht: «Die letzten Jahre haben bewiesen, dass es unmöglich ist, den Staat ohne Souveränität zu reformieren. Aber wie kann die Souveränität wiedergewonnen werden, ohne vorher den Staat zu reformieren?»
Die Wahlen sorgen nun für einen Hoffnungsschimmer. Mit ihrem eindrücklichen Starterfolg haben die Protestparteien aufgezeigt, dass Wandel möglich ist. Nicht zufällig sind es die christlichen und drusischen Communities, bei denen die Herausforderer besonders erfolgreich waren. Umfragen haben gezeigt, dass diese Bevölkerungsgruppen aktuell eher bereit sind, bestehende Privilegien zu opfern, um das bestehende System zu verändern. Sie könnten ein Modell aufzeigen, das auch für die restliche Bevölkerung attraktiv wird. Zumindest haben sie nun bewiesen, dass die bestehenden Machtverhältnisse durchbrochen werden können.
Wer folgt auf Präsident Aoun?
Die Euphorie der «Revolution» von 2019 ist mittlerweile Ernüchterung gewichen. Symbolisch für die Enttäuschung steht die Aufarbeitung der Explosion im Hafen von Beirut vom August 2020, bei der ganze Stadtteile in Schutt und Asche gelegt worden waren. Bisher ist es nicht gelungen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen – am vergangenen Wochenende wurden einige Verdächtige gar wiedergewählt. Mit einem Schlag, einer einzigen Protestwelle, lassen sich die Verhältnisse offenbar nicht umkrempeln. Es wird stattdessen einen langwierigen Prozess brauchen, um das libanesische Dilemma aufzulösen.
Auch wenn die Wahlen eine Möglichkeit aufzeigen, wie die Machtverhältnisse künftig neu strukturiert werden könnten, sind die unmittelbaren Konsequenzen der Wahlen schwierig abzuschätzen. Bereits gibt es Berichte über die Absichten unterlegener Parteien, die Wahlergebnisse nicht anzuerkennen. Somit dürften mühselige Verhandlungen die Regierungsbildung in den kommenden Monaten blockieren.
Im Oktober geht zudem die Amtszeit von Präsident Aoun zu Ende. Er hatte gehofft, seinen Schwiegersohn Gebran Bassil als seinen Nachfolger einsetzen zu können. Nachdem die Forces Libanaises nun an Gewicht gewonnen haben, werden sie die Präsidentschaft voraussichtlich für sich beziehungsweise für ihren Chef Samir Geagea reklamieren. Auch hier droht eine Blockade, selbst bewaffnete Zusammenstösse sind nicht auszuschliessen.
Die Wahlen haben nicht nur keine Lösung der aktuellen Probleme gebracht. Sie werden die Lage im Land zunächst weiter verkomplizieren. Doch sie haben auch gezeigt: Die Zeiten, in denen die politische Elite nach Belieben schalten und walten konnte, dürften vorbei sein.