Vor einem Jahr gelangte Giorgia Meloni an die Macht. Viele Ängste, die sie damals auslöste, schienen nicht gerechtfertigt. Doch noch hat sie die Katze nicht aus dem Sack gelassen. Meloni ist gefährlicher, als es viele wahrhaben wollen.
Die Wahlen vor einem Jahr brachten nicht einfach den sattsam bekannten Wechsel von links nach rechts oder von rechts nach links. Die Wahlen, bei denen Melonis «Fratelli d’Italia» 26 Prozent der Stimmen erhielten, waren eine Zäsur, die viele, die nur Schlagzeilen lesen, noch nicht begriffen haben.
Meloni hat eine echte Mission. Sie will die Geschichte umschreiben, sie korrigieren. Sie will den Staat umkrempeln, die Gesellschaft verändern.
Sie wird als «rechtspopulistisch» oder «postfaschistisch» bezeichnet. «Populismus» ist ein vager Begriff, ebenso «postfaschistisch». Was ist sie wirklich?
In Brüssel geküsst
Sie ist klug. Auf internationalem Parkett bewegt sie sich souverän. In kurzer Zeit hat sie die Ängste, die man in weiten Teilen des demokratischen Auslandes hatte, zerstreuen können. Im westlichen «Establishment» hat sie sich eingenistet. Meloni war früher eine virulente Kritikerin der EU und des Euro. Doch längst hat sie sich mit Brüssel angefreundet. Das ist nötig. Sie will ja nicht die 200-Milliarden-Hilfe in den Sand setzen, die ihr die EU zugesprochen hatte.
Jetzt wird sie in Brüssel geküsst und umarmt von Charles Michel, dem Präsidenten des Europäischen Rates. Mit Ursula von der Leyen tritt sie in Minne in Lampedusa auf. Am G20-Gipfel schüttelt sie Hände und umarmt die Grossen dieser Welt. Joe Biden scheint sie um den Finger gewickelt zu haben; väterlich und fast entzückt umgarnt er sie.
Gelobt wird sie dafür, dass sie – im Gegensatz zu Silvio Berlusconi und «Lega»-Chef Matteo Salvini – sich im Ukraine-Krieg klipp und klar auf die Seite des Westens gestellt hat.
Erzkonservative, reaktionäre Elemente
Doch neben dem internationalen gibt es auch das innenpolitische Parkett.
Nimmt man Melonis Äusserungen, ihre Auftritte, ihre Freundschaften (und ihre Ausrutscher) näher unter die Lupe, so erfährt man: Meloni hält wenig von der westlichen Demokratie in der heutigen Form. Ebenso wenig hält sie von der Volksmeinung und den Parlamenten.
Sie will Italien in einen Präsidialstaat verwandeln. Ein starker, straff organisierter Staat soll es sein – ein Staat, in dem das Volk und vor allem das Parlament viel weniger zu sagen haben als heute. Sicher ist, dass sie weitergehen will als der ungarische Präsident Viktor Orbán mit seiner «illiberalen Demokratie».
Vor allem soll es ein Staat sein mit teils erzkonservativen, reaktionären Elementen. Sie will zurück in eine Vergangenheit, die es längst nicht mehr gibt. «Gott, Vaterland und Familie» ist ihr Slogan. Sie spricht die Ängste jener Leute an, die mit Veränderungen nicht zurechtkommen – Leute, die Angst vor Neuem haben. Sie plädiert für eine strikte Law-and-Order-Politik.
Familienmodell der 50er Jahre
Die Kirche soll wieder aufgewertet werden. Feminismus ist vom Teufel, ebenso gleichgeschlechtliche Heiraten. Gelobt wird das Familienmodell der 50er Jahre. Sie richtet den Blick in eine Vergangenheit, die nicht mehr existiert.
Von Globalisierung halten die Fratelli d’Italia wenig. «Ohne Globalisierung», heisst es, «hätte Italien heute weniger Probleme und wäre eine stolze Nation.» Den Fehler bei anderen suchen, gehört zur italienischen DNA. Meloni und ihre Partei weigern sich anzuerkennen, dass sich Europa, die Welt verändert hat. Der Klimawandel wird von vielen in ihrer Partei geleugnet. Zwar schmelzen auch die italienischen Gletscher, aber: «Es war schon immer mal heiss», heisst es.
«Einigeln» heisst das Zauberwort. In der Sprache sollen sogar englische Ausdrücke verboten werden. Ihre Weltsicht enthält nationalistische, chauvinistische, nostalgische, teils faschistoide Elemente.
Die Geschichte umschreiben
Sag mir, was du für Freunde hast, und … Zu Melonis engsten Freunden gehören Viktor Orbán, Marine Le Pen, Steve Bannon und vor allem Santiago Abascal, der Vorsitzende der spanischen «Vox»-Partei. Er ist ein EU-feindlicher, teils rassistischer, rechtsextremer Nationalist. Zudem traten Mitglieder der neofaschistischen «Forza Nuova» als Bodyguards bei früheren Wahlkampfmeetings der Fratelli auf.
Die Geschichte des Landes wollen viele in der Partei umschreiben, «korrigieren», wie sie sagen. Es gibt Vorstösse, wonach in den Schulbüchern die Faschisten und das Mussolini-Zeitalter weit freundlicher dargestellt werden sollen als bisher. Der Tenor ist: Die Faschisten haben auch viel Gutes getan. Der Widerstand der meist linken Partisanen gegen Mussolini werde überbewertet und allzu glorreich dargestellt. Das grosse Verdienst von Mussolini und seinen Faschisten sei es gewesen, den Kommunismus zu verhindern. Das müsse endlich betont werden.
Europa verändern
Umgeben ist Meloni von Leuten, die diese erzkonservative, reaktionäre und geschichtsrevisionistische Weltsicht hochhalten. Einige aus ihrer Entourage sind vom Postfaschismus noch nicht wirklich losgekommen. Andere sind religiöse Heuchler, die den Rosenkranz schwingen und täglich Dutzende Vaterunser beten. Sie haben eine nicht nach vorne, sondern nach hinten gerichtete Weltsicht.
Doch Meloni will nicht nur Italien, sondern ganz Europa verändern. Sie will zusammen mit den anderen rechtextremen und rechtspopulistischen Parteien Allianzen bilden und so ihren Einfluss verstärken. Sie und Vize-Ministerpräsident Salvini zimmern schon an einem Bündnis zwischen den Fratelli, der Le-Pen-Partei, der AfD, der ungarischen Fidez, der rechtsextremen spanischen VOX und den polnischen, belgischen, niederländischen, skandinavischen und portugiesischen Rechtsaussen-Parteien. Salvini hofft bereits auf eine Mehrheit im 705 Mitglieder zählenden Strassburger Europa-Parlament. Dazu wird es wohl nicht kommen.
Klotz am Bein
Natürlich hat auch Meloni ihre Probleme. Eines ihrer Hauptprobleme ist ihr Vize. Vize-Regierungschef Salvini, Chef der teils rassistischen, sehr rechts stehenden Lega, hatte einst Höheres im Sinn. Er wollte Ministerpräsident werden und wäre es beinahe geworden. Doch dann grub ihm Meloni das Wasser ab. Seither ist er in der Regierung ein fast vergessener «Nobody». Seine Lega-Partei dümpelt bei 8 Prozent dahin. Er steht eindeutig im Schatten der Fratelli-Chefin.
Das kommt bei ihm nicht gut an. Deshalb muss er poltern, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Der neue Flüchtlingsstrom kommt ihm zur Zeit nur gelegen. Wieder kann er sich als harter Durchgreifer präsentieren, der die Flüchtlinge abweist und zurückschickt. Offen kritisiert er die Politik Melonis, die gegenüber der EU Rücksicht nehmen muss. Doch solange Salvini das fünfte Rad am Wagen ist, wird er wohl kaum in der Wählergunst zulegen.
«Un ritorno al passato che preoccupa»
Meloni hingegen kann sich halten. Im Vergleich zu den Wahlen vor einem Jahr hat sie sogar leicht zugelegt. Das liegt auch an der schwachen, zerstrittenen Opposition. Den Sozialdemokraten ist es trotz junger, weiblicher Führung bisher nicht gelungen, sich zu profilieren.
Viele, auch Linke, sagen heute, so schlimm ist diese Meloni doch nicht, wie wir anfangs befürchtet haben. Ja, bisher gab sie vor allem das Bild einer aufrechten Europäerin ab. Doch vielleicht wäre es ratsam, Meloni genau zu beobachten. Sie strebt einen Bruch mit der langen republikanischen Geschichte und Tradition an. Sie will das Land zurückführen in frühere, gar nicht so schöne Zeiten. «Un ritorno al passato che preoccupa e inquieta», schreibt am Sonntag die linksliberale Römer Zeitung La Repubblica. Eine Rückkehr in eine Vergangenheit, die beunruhigt und zur Sorge Anlass gibt.