Der Monarch sagte, die neue Verfassung würde dem Parlament und dem vom Parlament bestimmten Ministerpräsidenten einen entscheidenden Machtzuwachs gewähren. Der Ministerpräsident würde nicht mehr wie bisher vom König ernannt werden, sondern aus der parlamentarischen Mehrheit hervorgehen. Er würde zum Hauptdirigenten des Königreichs werden. Doch der Herrscher behielte das Recht, ihn zu bestätigen, sowie auch die Minister, die Provinzgouverneure und die Botschafter, welche der Ministerpräsident vorschlage.
Die Armee bleibt in der Hand des Herrschers
Der Herrscher würde auch den Oberbefehl über die Armee bewahren, was das ausschliessliche Recht beinhalte, über die Beförderung der Offiziere zu bestimmen.
Es soll neu auch ein Oberster Sicherheitsrat geschaffen werden, über den der Herrscher den Vorsitz führte; führende Generäle, der Ministerpräsident und der Parlamentspräsident wären seine Mitglieder. Der Rat würde als eine beratende Plattform für Fragen der inneren Sicherheit und der Aussenpolitik dienen. Ebenso würde neu ein Verfassungsgerichtshof entstehen. Die Hälfte seiner Mitglieder würde der König ernennen. Unabhängigkeit der Gerichte, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit würden garantiert "im Rahmen der Gesetze".
Absage an Gewaltmissbräuche
Der König sagte: "Der Verfassungsvorschlag erklärt alle Eingriffe, Einmischung oder Versuche der Einflussnahme gegenüber der Gerichtsbarkeit als Verbrechen." Ebenso kriminalisiert er "Folter, gewaltsame Entführungen, ungerechtfertigte Verhaftungen und alle Arten der Diskrimination, sowie unmenschliche und unwürdige Behandlung".
Er erklärte seinem Volk: "Es ist Uns gelungen, eine neue demokratische Verfassung zu entwickeln. Ich wende mich an Euch, um unsere gemeinsame Entschlossenheit zu erneuern, einen bedeutungsvollen Übergang zum Aufbau eines Staates zu vollziehen, der auf dem Gesetz, auf demokratischen Institutionen und auf guter Regierungspraxis beruht".
Ein fast parlamentarisches Regime
Der Verfassungsvorschlag versucht, ein Gleichgewicht zwischen dem König und den gewählten Regierungsbehörden zu schaffen. Bisher war der König allmächtig gewesen. Die Demonstranten in Marokko, die sich "Bewegung des 20. April" nennen, wünschen jedoch eine "parlamentarische Demokratie", worunter sie ein Regime verstehen, in dem der König herrschen, aber nicht regieren würde. Alle wirkliche Macht käme ihren Vorstellungen nach der auf einer parlamentarischen Mehrheit beruhenden Regierung zu.
Am kommenden Sonntag werden die Demonstranten erneut auf die Strassen ziehen. Ihre Slogans und die Menge der Beteiligten werden vielleicht einen Schluss darauf zulassen, wieweit die Konzessionen des Königs ihnen annehmbar scheinen. Sie würden immerhin einen grossen Schritt auf parlamentarische Vollmachten hin zulassen. Allerdings würde dem König mit dem Oberbefehl über die Armee weiterhin die letzte Machtkompetenz verbleiben.
Viele Beobachter glauben, dass der Erfolg dieses Reformvorschlag am Ende davon abhängt, ob er bewirken kann, dass die informellen Machtklüngel um den Thron herum, die bisher über viel Reichtum und Einfluss verfügten, verschwinden oder mindestens spürbar an Bedeutung verlieren.
Sehr kurze Frist für die Abstimmung
Die überaus kurze Frist zwischen der gegenwärtigen Ankündigung und dem vorgeschlagenen Plebiszit begründete König Muhammed mit seinem Willen, seine Aufrichtigkeit unter Beweis zu stellen. Vor seiner Ansprache war von einem Plebiszit im September die Rede gewesen. Doch möglicherweise spielen noch andere Überlegungen mit. Es könnte sich um eine Art von Überrumpelungstaktik handeln, mit der vermieden werden soll, dass die Demonstranten die Forderung aufstellen, sie - das Volk, nicht der Herrscher - sollten in einer Verfassungsversammlung die künftige Verfassung formulieren.
Anders als alle anderen Monarchen
Der Schritt auf eine konstitutionelle Monarchie zu hat auch grosse Bedeutung für die anderen arabischen Monarchen. Sie haben sich bisher unter der Führung Saudi Arabiens und nach dem Motto „Wehret den Anfängen“ geweigert, echte Konzessionen einzugehen.
Die Monarchien des Golf Entwicklungsrates haben vor einem Monat unter Führung Saudi Arabiens den Monarchen von Marokko und Jordanien angeboten, in ihren Staatenbund einzutreten. Sie hofften, dadurch diese beiden Monarchen gegenüber den Demonstranten in ihren Ländern zu stärken. Zu einem formellen Beitritt der beiden ist es aber bisher nicht gekommen. Ein Beitritt von Marokko dürfte nun ausgeschlossen sein, da der König offenbar den Weg von echten Reformen einschlagen will, den die Golfmonarchen vermeiden möchten.
König Abdullah von Jordanien, der auch mit Demonstranten konfrontiert ist, hat seinerseits gelegentlich erklärt, er sei bereit, eine konstitutionelle Monarchie zu schaffen an Stelle der bestehenden nahezu absoluten. Ob seine Demonstranten ihm Zeit lassen, abzuwarten und zuzusehen, wie der Übergang zur Dreiviertel-Demokratie in Marokko verläuft, ist allerdings ungewiss.
Man hat den Reformvorschlag des marokkanischen Königs als eine ausserordentlich mutige Initiative einzustufen. Keiner der arabischen Machthaber hat es bisher gewagt, vergleichbares vorzulegen. Der marokkanische Herrscher kann darauf zählen, dass ein bedeutender Teil der Bevölkerung, vor allem in den ländlichen Kreisen, seine Herrscherposition als legitim, ja sogar als gottgegeben, hinnimmt. Das gleiche gilt allerdings keineswegs von den grossen und kleinen Machthabern, die unter und neben ihm bisher die Macht ausgeübt haben.
Der Herrscher hat auch mit dem Umstand zu rechnen, dass er selbst und seine Vorläufer schon oft Reformen versprochen haben, diese aber nie in eine für die Bevölkerung spürbare Realität umsetzen konnten oder wollten. Dies nährt natürlich die Skepsis der Demonstranten. Viele von ihnen sind der Ansicht, wirksame Reformen könnten erst kommen, wenn sich die Machtverhältnisse entscheidend veränderten. Veränderungen bringt der Verfassungsvorschlag, wie weit es aber grundlegende Veränderungen sein werden, bleibt offen.