Wir fuhren im Familienauto durch die dortige Bahnhofstrasse, und die Eltern erklärten uns Kindern die Bedeutung der hohen Trottoirs. Hier würde bei starken Regenfällen die Langete durchfliessen – mehrmals pro Jahr, das sei ganz normal. Die Bewohner hätten aus Holz Stege gebaut, die bei solchen Ereignissen jeweils an den wichtigen Stellen über die Strasse gelegt würden, damit die Fussgänger die Strassenseite wechseln könnten. „Klein-Venedig“ würden die Langenthaler ihr Städtchen nennen – nicht ohne Stolz.
Ich habe die ungewöhnliche Hochwasserentlastung selber nie in Funktion gesehen, aber meine Fantasie stellte sich die Szene plastisch vor: Langenthalerinnen, welche in ihren Booten zum Einkaufsbummel fahren und diese an geeigneter Stelle am Trottoir festmachen, dazwischen der Briefträger auf seiner Tour, selbstverständlich im postgelben Weidling.
Nicht zuletzt wegen der wachsenden Versiegelung der Landschaft als Folge der Bautätigkeit im Einzugsgebiet der Langete nahm in den 1970er-Jahren die Heftigkeit der Hochwasser stetig zu und kulminierte am 30. August 1975 in einem „Jahrhundert-Hochwasser“ mit einer Abflussspitze von neunzig Kubikmeter pro Sekunde, wo es sonst lediglich deren zwei sind. Die erhöhten Trottoirs in der Bahnhofstrasse versanken metertief in den Fluten, und der Sachschaden im Tal betrug mehr als sechzig Mio.
Das muss buchstäblich jener Tropfen gewesen sein, welcher das Fass zum Überlaufen brachte. Die betroffenen Gemeinden gründeten einen Hochwasserschutzverband und bauten für 90 Mio. Franken einen 7500 Meter langen Entlastungsstollen von Madiswil bis in die Aare bei Bannwil. Er ging 1991 in Betrieb. In jenem Jahr ist mir eine Sitzung mit dem damaligen Direktor der ETH-Versuchsanstalt für Wasserbau, Professor Daniel Vischer, in Erinnerung geblieben. Seine Sekretärin platzte damals aufgeregt mitten in die Besprechung herein. Man habe aus Langenthal eben gemeldet, die Langete fliesse heute wahrscheinlich zum letzten Mal durch das Städtchen. Der Direktor brach die Sitzung unverzüglich ab und fuhr zum Ort des Geschehens. Bis auf ein oder zwei spätere Ausnahmen war damals tatsächlich Schluss mit dem Spektakel. – Soviel zum Untergang von Klein-Venedig.
Als meine Frau und ich kürzlich im Bahnhof von Langenthal den Zug verliessen, wurde mir einmal mehr bewusst, wie sich Erinnerungen aus der Kindheit im Laufe der Jahre selbständig machen. So schienen mir jetzt die „Trottoir-Mauern“ meiner Jugend enttäuschend harmlos, und die Strassen sahen nicht aus, als ob sie einst als temporäre Bachbetten gedient hätten. Im Städtchen waren wir zufällig auf eine stattlichen Villa gestossen, an deren Fassade in schönen Lettern „Hotel Auberge“ prangte. Neugierig betraten wir einen grossen hohen Raum – wie gemacht für Corona-Zeiten –, wo man uns trotz Wanderkleidung und klobigen Schuhen liebevoll einen Kaffee servierte.
Die Langete schnurrte wie ein zahmes Kätzchen in ihrem Bett, als wir später ihrem Lauf flussabwärts folgten. Beim Weiler Kaltenherberge verliessen wir das Flüsschen und überquerten die Kantonsstrasse Nr. 1, auf der einst der gesamte Verkehr zwischen Zürich und Bern und weiter nach Lausanne und Genf gerollt war. – Ich stellte mir für einen Moment meine Eltern mit ihren fünf Kindern im alten Vauxhall vor, wie wir uns jeweils gestritten hatten, wer vorne auf der langen Bank zwischen der Mutter (am Steuer!) und dem Vater sitzen durfte. Sicherheitsgurten kannte man erst im Flugzeug.
In der Kaltenherberge stand einst, wie ich später lese, ein Landgasthof in günstigster Verkehrslage, bevor er 2002 durch einen Brand zerstört worden war. Da die Kantonsstrasse unterdessen durch die A1 Konkurrenz erhalten hatte, wurde der Gasthof nicht wieder aufgebaut. Zwar braust der Verkehr noch immer nahe vorbei – auf Schienen allerdings und mit bis zu 200 km pro Stunde, was einem auf Kunden wartenden Landgasthof wenig dienlich ist. Ganz in der Nähe schneiden sich gleich drei Schienenstränge, die Bahnlinie Olten-Langenthal aus dem 19. Jahrhundert, die einstige Schmalspurbahn von Langenthal nach Melchnau von 1917 (das Teilstück von St. Urban nach Melchnau 1989 stillgelegt) und seit 2006 die Neubaustrecke von Olten nach Bern.
Ohne die gelben Wanderwegrhomben hätten wir es kaum geschafft, die verschiedenen Bahnstrecken zu kreuzen: Durch Unterführungen, über Treppen und Brücken suchten wir unseren Weg. Endlich liessen wir das Getöse hinter uns und gingen über die Wiesen dem Buechwald zu.
Auch hier trafen wir auf die Früchte der Mühsal unserer Vorfahren, die Wässermatten des Oberaargaus, welche vor Jahrhunderten vom nahen Kloster St. Urban in den Tälern der Langete, Önz und Rot zur Fruchtbarmachung der kargen Flussschotterböden angelegt worden waren. Zwischen Olten und Bern kann man vom Zug aus bei Roggwil noch immer deren letzte Spuren entdecken, falls man genügend schnell zu schauen weiss.
Wir aber hatten Zeit, die alten Wassergräben und Teiche zu bewundern. In der Ferne flitzte ein letztes Mal ein Zug Richtung Bern vorbei, dann tauchten wir in die wohltuende Stille des Waldes ein. Auf einem schmalen Holzbrücklein überquerten wir einen tiefen Graben – vielleicht ein früherer Lauf der Langeten zur Aare? – und erreichten einem Rastplatz mit Feuerstelle, Ort für eine kurze Zwischenverpflegung. Nun war es nur noch ein Katzensprung zur Aare. Nördlich der Holzmatte stiessen wir auf den Uferweg.
Wer kennt es schon, das Aaretal von Wangen a.A. bis Murgenthal, durch das weder Bahnlinien noch grössere Strassen führen? Zwischen Hügeln und Wäldern sucht sich hier der Fluss seinen Weg zum fernen Meer. Dass diese Idylle in den 1970er-Jahren nur wenige Kilometer flussaufwärts, bei Graben, beinahe einem Kernkraftwerk geopfert worden wäre, wissen wahrscheinlich nur noch die Älteren unter uns.
Den technischen Bauten unserer Vorfahren gegenüber sind wir offensichtlich viel toleranter, ja fast etwas nostalgisch. Das bereits 1895 erbaute Kraftwerk Wynau, welches wir nun auf dem Weg nach Murgenthal passierten, schien uns bereits natürlicher Teil der Flusslandschaft geworden zu sein. Auf dem andern (linken) Aareufer kam später ein zweites Kraftwerk (Schwarzhäusern) dazu, welches das gleiche Stauwehr benützt. Beide Maschinenhäuser stehen übrigens unmittelbar an der Grenze zum Kanton Solothurn. Wollte damals der Kanton Bern seinem Nachbarkanton „das Wasser abgraben“, wie es heute an manchen grossen Flüssen unserer Erde geschieht?
Die Kraftwerkanlage ist im Jahre 1996 erneuert und mit einer Fischtreppe versehen worden. Grosse Schautafeln informieren den Wanderer über die zahlreichen Pflanzen- und Tierarten, welche an der Aare ihren Lebensraum haben. Besonders imposant ist das Foto eines Bibers mit riesigen gelben Zähnen. Man kann sich vorstellen, dass Bäume diesen Baggerschaufeln wenig entgegenzustellen haben.
Etwas weiter flussabwärts führt eine privat betriebene Fähre zum Restaurant Fähre in Wolfwil am andern Ufer.
Sie war an diesem Tag leider nicht in Betrieb, aber wir merkten uns den idyllischen Ort für einen späteren Ausflug. Kurz danach beschreibt der Fluss eine scharfe Rechtskurve. Mit gutem Grund warnt hier eine Tafel die Badenden vor gefährlichen Strömungen und Wirbeln. In der Ferne tauchten die Häuser des alten Dorfteils von Wynau auf, welche sich um ihre kleine Kirche scharen. Wir hätten sie gerne nach ihren Erinnerungen an die letzten Jahrhunderte gefragt, nach Hochwasser und Trockenperioden, Hungersnöten und Kriegen, Hochzeiten und Beerdigungen.
Auf dem nahen Parkplatz luden zwei ältere, rüstige Frauen aus ihrem Auto Koch- und Picknickutensilien auf einen Leiterwagen und zogen dann das schwere Gefährt auf dem holprigen Weg zum Fluss hinunter. Ein Berner Sennenhund trottete, nur halb interessiert, hinter den beiden her. Wir hätten gerne gewusst, was sie mit ihrer Haushaltung vorhaben, verloren sie aber auf dem Weg nach Murgenthal bald aus den Augen.
Der schmale Uferweg führt hier dem steilen Uferbord entlang. Es schien uns, das Wasser fliesse hier besonders ungestüm, als ob es sich nach der beschaulichen Reise durch den Oberaargau befreien wollte. Ein beliebter, aber sicher nicht ganz ungefährlicher Ort für Kanuten, wie die rot-weissen Stangen im Fluss zeigen.
Nach einer letzten Rechtskurve tauchte die gedeckte Holzbrücke von Murgenthal auf. Vergeblich suchten wir auf dem Weg zum nahen Bahnhof nach einer offenen Wirtschaft. Schliesslich begruben wir unsere Vorfreude auf Suppe und Bratwurst und nahmen den Regionalzug nach Olten. Zwischen Aarburg und Olten, beim Chloosbrunne, hörte ich in der Erinnerung die Stimme meines Vaters: „Schaut rechts, da seht ihr die beiden Steinsäulen, die einst den Galgen trugen.“
Vergangene Zeiten! Galgen schrecken nicht mehr, dafür anderes. Ein letzter Blick auf die Aare, so wie sie die eiligen Reisenden kennen, ein Fluss zwischen Häusern, Fabriken, Kühltürmen und Autobahnen. Zum Glück birgt sie noch andere Geheimnisse.