Ferienzeit als erholsamer Kontrast zum hektischen Alltag: Viele meiden darum Flugzeug und Auto und ziehen zu Fuss los – wie die Flaneure von einst: gemächlich unterwegs sein und dabei die Seele baumeln lassen. Eine kleine literarische Spurensuche.
Heute muss ja alles schnell gehen. Für vieles haben wir zu wenig Zeit. Im Kleinen und im Grossen. Wir alle erfahren unsere Epoche als dynamisches Gebilde. Tempo, Rasanz, Non-Stopp sind ihre Merkmale. Das bringt uns in Atemnot. «Le temps mange la vie», hat der französische Dichter Charles Baudelaire in einem Gedicht geschrieben. Ein lapidarer Satz. Die Zeit zehrt das Leben auf. Von «Zeitfressern» erzählt auch MOMO, die struppige kleine Heldin im geheimnisvollen Märchen-Roman von Michael Ende.
«Hier stösst die Eile auf Zeit.»
Sich Zeit nehmen für die Zeit. Das leisten sich in den Sommertagen viele; vielleicht leben sie nach der Devise: «Hier stösst die Eile auf Zeit.» Ein wunderbares Motiv! Es leuchtet eingraviert über dem Eingangstürchen einer kleinen, schmucken Bergkapelle. Die Botschaft: An diesem stillen Ort in den Alpen triff die Hektik auf das Verweilen, der Druck auf das Entschleunigen.
Vielleicht ist es eine Art «Windstille der Seele». Davon hat der Philosoph Friedrich Nietzsche gesprochen – droben in Sils-Maria. Auf seinen ausgedehnten Spaziergängen im Oberengadin fand und empfand er diese «Windstille der Seele». Zu Fuss hält eben auch die Seele Schritt. So erstaunt es nicht, dass Nietzsche das Gehen mit dem Denken und dem Kreativen verband. Viele seiner Ideen und seiner aphoristisch verdichteten Gedanken kamen ihm beim Gehen am Engadiner Silsersee. Migrantes Denken sozusagen – im Anklang an die griechischen Peripatetiker. Darum sein Rat: «So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.»[1]
«Mein Kopf geht nur mit meinen Füssen»
Gleichzeitig erinnert Nietzsche an den Komponisten Ludwig von Beethoven; «[er] componierte gehend. Alle genialen Augenblicke sind von einem Überschuss an Muskelkraft begleitet», schreibt er. Darum sein bedenkenwerter Nachsatz: «Oh wie rasch errathen wir’s, wie Einer auf seine Gedanken gekommen ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt: oh wie rasch sind wir auch mit seinem Buche fertig!» Und Nietzsches Fazit: «Das geklemmte Eingeweide verräth sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verräth.»[2]
«Mein Kopf geht nur mit meinen Füssen», soll Jean-Jacques Rousseau gesagt haben. Der Kopf braucht Bodenkontakt; den bekommt er durch die Füsse. Vielleicht erfahren wir darum die Welt intensiver, wenn wir das Geistige mit den Sinnen durchdringen. Wenn wir die Natur ergehen. Gehen war schon immer mit Erforschen, Erfahren, Erkunden verbunden. Neue Perspektiven, veränderte Weltsichten.
Dem Denken Raum geben
Wer in Goethes Berichten über seine drei Schweizer Reisen liest, ist erstaunt, wie viele Einsichten Goethe in dieser kurzen Zeit gewonnen hat, wie viele Sichten er wahrgenommen, was er in sich aufgenommen und nach Stunden aufgeschrieben oder diktiert hat. Er hat unser Land im wahrsten Sinne des Wortes «ergangen». Seine Gedanken sind darum Ge[h]danken.
Dazu brauchte Goethe eines: Dem Denken Raum geben und Raum für Gedanken finden – als Ergebnis vergnügter Langsamkeit. Später hat er dann mit der Industrialisierung die «veloziferische – die teuflische – Beschleunigung» erlebt und in den «Wahlverwandtschaften» dagegen angeschrieben. Vielleicht ahnte Goethe, dass mit der beginnenden Zivilisationsdynamik auch die Zeit gefährdet war.
«Unterwegssein ist alles.»
Zeit, das hatten die Flaneure der Romantik, beschrieben in der berühmten Novelle «Aus dem Leben eines Taugenichts» von Joseph von Eichendorff. Sie hatten Musse, die Flaneure, die faulen Burschen der Volkslieder, die Vagabunden, die gemächlich und gemütlich von einer Mühle zu andern zogen und unter freiem Himmel schliefen? Ihr Motto: nicht rennen, sondern flanieren – nicht sputen, lieber spazieren – nicht hetzen, vielmehr bummeln. Sie waren unterwegs und konnten ihre Seele baumeln lassen.
«Paris ist nichts, Basel ist nichts, Unterwegssein ist alles!» So sah es auch Arnold Kübler, Gründer des Kulturmagazins DU, im Buch «Paris – Bâle à pied». Das Unterwegssein als Metapher fürs Leben, die Pilgerreise als Bild für den Homo Viator. Nicht im Ankommen liege das Glück, nein, im Aufbrechen, rubrizierte der kluge Kolumnist Kübler, im Weiterziehen und Unterwegssein.
«Ich habe Zeit!»
Wer unterwegs ist, hat Zeit – vielleicht sogar in Fülle. Oder er nimmt sich mindestens Zeit. Darum sei dies auch der Gruss der Philosophen: «Lass dir Zeit!» So postulierte es Ludwig Wittgenstein. Und vielleicht gilt darum – mindestens – für die Sommertage der Leitgedanke: «Ich habe Zeit!» Möglicherweise liegt darin auch der Sinn von Karl Valentins tiefgründigem Bonmot: «Heut b’suëch i mi! Hoffentlich bin i z’Haus!»
[1] Friedrich Nietzsche: Langsame Curen. Ansichten zur Kunst der Gesundheit. Hrsg. von Mirella Carbone und Joachim Jung. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder, 2000, S. 47.
[2] Ebda.