Wer wettkampfmässig einen Orientierungslauf bestreitet und sich bei der Routenwahl nicht einfach an sichern Waldwegen und Leitlinien orientiert, der weiss: Trotz Karte und Kompass zählt zum OL das Ungewisse, gehört das Unverfügbare wie Dickicht und Tümpel, rechnet sich das Zufällige, denn die gewählte Laufstrecke könnte meist auch eine andere sein: Darin liegt das Kontingente dieses Sports, und darin verbirgt sich sein Faszinosum. Es ist die Spannung zwischen Machbarem und Unsicherem, zwischen der Offenheit der Aufgabe und der Ungewissheit des Geländes, zwischen dem getroffenen Routenentscheid und dem konkreten Weg – der OL als Metapher fürs nicht-lineare Unterrichtsgeschehen, fürs Wirken im offenen und komplexen Raum des pädagogischen Parterres.
Ungewissheit als Kennzeichen pädagogischen Handelns
Kontingenz, Ungewissheit und das Unverfügbare: Diese drei Eckwerte gehören darum konstitutiv zum Schulalltag; sie machen das Bermudadreieck des Unterrichts aus. Pädagogisches Handeln ist in hohem Grad von Ungewissheiten und Ambiguitäten geprägt. Jede erfahrene Lehrerin kennt die Aspekte des Unplanbaren, jeder praxiserprobte Lehrer weiss um die Unsicherheit der Lernprozesse und der Lernergebnisse. Ungewissheit gehört zu ihrer Tätigkeit wie das Amen in der Kirche. [1]
Darum wohl diagnostiziert der Systemtheoretiker Niklas Luhmann: „Was der Lehrer lernen kann, ist demnach nicht als rezeptgenaues Handeln aufzufassen. (Er muss) mit einem bestimmten, unterrichtstypischen Verhältnis von Redundanz und Varietät zurechtkommen. (…) Unterrichtserfahrung heisst demnach auch“, so fährt er fort, „dass man durch bestimmte Überraschungen und negative Erfahrungen sich nicht aus der Fassung bringen lässt.“ [2] Luhmann verweist damit auf die Grenzen der Steuerbarkeit und Kontrollierbarkeit einer jeden Unterrichtsarbeit.
Kaum etwas verläuft gradlinig und krisenlos
Die systematische Unsicherheit dieses pädagogischen Handelns zeigt sich in vielen Fragen: „Werde ich die Kinder vom Wert des Lernens und des ‚Get involved!‘ überzeugen können, und bauen sie ein nachhaltiges Interesse für das Thema auf? Kann ich mein ‚Programm‘ sinnvoll bearbeiten, und fällt mir zum richtigen Zeitpunkt der richtige Impuls ein? Was geschieht in den Köpfen der Jugendlichen? Werden sie die Aufgabe verstehen und bearbeiten können? Und wer von meinen Schülerinnen und Schülern kommt wann und wie ans Ziel? Wo bauen sie Widerstände auf, wo erfahren sie Irritationen?“ Das und manches mehr möchten Lehrerinnen und Lehrer wissen, doch ganz gewiss können sie nie sein.
Pädagoginnen und Ausbildner erleben diese Spannung immer dann, wenn sie Lektionen planen und durchführen. Warum? Sie sind konfrontiert mit der Komplexität von Lehr- und Lernprozessen, mit der Unvorhersehbarkeit von sozialen Dynamiken in der Klasse und dem unvermeidbaren Eingehen von Risiken im Lektionsgeschehen. [3] Unterrichten ist ein stetes Suchen nach dem Möglichen und Notwendigen. Im Zufälligen und Unverfügbaren, in dem, was nicht geplant werden kann, liegt das Kontingente dieses anspruchsvollen Berufs. Zum Ausdruck kommt das im charakteristischen Satz: „Es könnte auch ganz anders möglich sein.“
Spannung darf nicht zum persönlichen Problem werden
Was auch anders möglich ist, eröffnet Handlungsoptionen und Gestaltungsspielräume, bietet Alternativen, generiert Perspektiven. Das ist einerseits bereichernd, das belebt und macht die kreative Vielfalt und Freiheit dieser Aufgabe aus. Anderseits kann diese Offenheit, dieses Unplanbare auch verunsichern, kann dieses kontingente „Es könnte auch anders sein“, dieses implizite „Auch-anders-handeln-Können“ irritieren und beunruhigen. Manche Lehrpersonen nehmen dieses Vieldeutige, diese Spannung zwischen Machbarkeit und Unsicherheit eher als Problem und Last wahr und weniger als beflügelndes Stimulans. Das zeigt die Forschung.
Viele Vorgaben wollen kontingente Situationen verhindern
Unterricht detailliert planen und alle Eventualitäten mitbedenken, das gehört zum erworbenen Grundhabitus von Lehrpersonen. So lernen sie es in der Grundausbildung und in Weiterbildungskursen. Sicher und gewiss möchten sie sein, vielleicht sogar „eindeutig“, möchten den Ablauf linear-zielorientiert steuern und kontrollieren. Es sollte nichts passieren, nichts danebengehen.
So suggerieren es auch Lehrpläne und Papiere aus den Bildungsstäben. Die engen Vorgaben wollen kontingente Situationen eliminieren und das Bildungsgeschehen kontrollieren. Sie setzen auf Sicherheit und damit auf einen beherrschbaren, stringent planbaren und rational lenkbaren Unterrichtsverlauf; im Grunde genommen laufen solche Direktiven immer auch auf Wenn-dann-Korrelationen hinaus – wie beispielsweise: Wenn die Kinder selbstorientiert ihre Aufgaben bearbeiten, dann sind sie intrinsisch motiviert.
Kontingenz ist allgegenwärtig
Doch der freie Geist geht immer wieder nebenhinaus; das Offene und Unvorhersehbare gehört zum Unterricht. Das Kreative braucht eben einen Schuss Chaos. Darum ist die Kontingenz in der Schule – wie auch im täglichen Leben – allgegenwärtig; sie lässt sich weder restlos beherrschen noch eliminieren. Im Gegenteil: In unplanbaren Situationen liegen manche überraschenden, wertvollen Aspekte des Unterrichts.
Zentrale Spannungsfelder lassen sich nicht auflösen
Jede OL-Läuferin, jeder OL-Wettkämpfer erlebt auf der Route zum nächsten Posten das Unsichere und Ungewisse. Das Kontingente läuft sozusagen mit. Es ist die stete Frage: Hätte ich nicht gegenteilig entscheiden und eine andere Strecke wählen sollen? Diese Ungewissheit ist kein Defizit; sie gehört zum Gelingen. Jeder OL-Crack nimmt sie als dynamisches Element seines Sports an.
Und genau gleich gewinnen erfahrene Lehrpersonen ein konstruktives Verhältnis zum Problem der Kontingenz und der Ungewissheit im Unterricht. [4] Das Spannungsgefüge von Gewissheit und Möglichkeit, von prinzipiell Geplantem und konkret Machbarem lässt sich nicht auflösen; es lässt sich nur aushalten und gewinnbringend gestalten. Für Lehrerinnen und Lehrer bleibt dies eine zentrale Aufgabe ihres pädagogischen Handelns. Zugunsten der Kinder und Jugendlichen.
[1] Vgl. Andreas Gruschka (2018), Ungewissheit, der innere Feind für unterrichtliches Handeln, in: Ingrid Bähr et al. (Hrsg.), Irritation als Chance. Bildung fachdidaktisch denken, Heidelberg: Springer-Verlag GmbH, S. 163.
[2] Niklas Luhmann (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Herausgegeben von Dieter Lenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 45f.
[3] Vgl. Klaus Schneider (2021), Der Berufseinstieg von Lehrpersonen. Übergang und erste Berufsjahre im Kontext lebenslanger Professionalisierung. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, S. 21.
[4] Arno Combe (2015), Schulkultur und Professionstheorie. Kontingenz als Handlungsproblem des Unterrichts, in: Jeanette Böhme et al. (Hrsg.), Schulkultur. Theoriebildung im Diskurs. Heidelberg: Springer-Verlag GmbH, S. 118.