Der Tag: grau und kalt, eisig sogar, wegen der Bise. Dann der Espresso bei Iso Camartin: heiss und dunkel, die Amaretti dazu süss. Das Buch, das auf dem Tisch liegt, heisst „Opernliebe“. Auf dem Umschlag schmachten Tristan und Isolde. Das passt doch: dunkel und heiss und süss, so ist auch die Liebe in der Oper. Und die Liebe zur Oper. Ein zweideutiger Titel, der vieles beinhaltet.
Iso Camartin nickt. Und er erklärt: „Opernliebe ist eine Eigenschaft, die bestimmte Menschen haben. Sie gehen gern in die Oper und sind verliebt in diese Kunstform. Es geht aber auch um die Liebe, wie sie in der Oper dargestellt wird. Diese Opernliebe ist anders als die Liebe im Leben. Der Titel ‚Opernliebe‘ besitzt diese Ambivalenz, um beide Seiten zu beleuchten.“
"Ein bisschen eine Art Vorbegeisterung..."
Acht Jahre lang hat Iso Camartin in Zürich die „Opernwerkstatt“ geleitet. Das war zu Zeiten von Alexander Pereira. Im Vorfeld einer Premiere hat Iso Camartin Opern-Enthusiasten nicht nur eine Einführung, sondern den richtigen Kick gegeben, um die Neugierde auf die Produktion zu schüren. Diese Enthusiasten sind nun das Zielpublikum seines Buches. Sie spricht Camartin im Untertitel ausdrücklich an. Aber nicht nur sie. Opern-Neulinge werden nicht ausgeschlossen, denn sie könnten ja noch Enthusiasten werden. „Ein bisschen eine Art Vorbegeisterung sollte man schon mitbringen“, sagt Camartin fast etwas entschuldigend, denn für Leute, die keine Ahnung von Oper haben, sei es vielleicht nicht das richtige Buch. Wohl aber für Musikfreunde, die schon etwas angefixt sind, um es mal so auszudrücken, und mehr wissen wollen.
Es sollte kein allgemeines Buch über die Oper werden. „Brauchbare Opernführer gibt es genug“, sagt er. „Ich wollte aber eine Fokussierung haben. Ich habe nach einem Thema gesucht, bei dem man einerseits über diese sehr luxuriöse Kunstform Oper als Gattung schreiben kann, aber auch über einen ganz spezifischen Aspekt“. Gefunden hat er die Opernliebe. Es gibt nur ganz wenige Opern, in denen die Liebe keine Rolle spielt. Und selbst bei Werken, in denen die Liebe nicht im Zentrum steht, erzählt die Musik oft eine andere Geschichte. „Zum Beispiel bei ‚Fierrabras‘ von Franz Schubert, einer meiner Lieblingsopern, spricht die Musik immer von Liebe, das hört und spürt man. Insofern ist die Liebe tatsächlich ein zentrales Fokussierthema für den Opernbereich.“
Keine Lulu
So spannt Iso Camartin in seinem Buch nun einen weiten Bogen von den Anfängen der Oper mit Claudio Monteverdis „Orfeo“ aus dem Jahre 1607 bis zu Richard Strauss. Vorgesehen waren zunächst 65 Opern, dann blieben 50 übrig. Gebremst hat einerseits der Verlag, aber auch Iso Camartin sagte sich: basta! „Damit fehlt allerdings ein ganzer Bereich, der für mich wichtig wäre“, bedauert Iso Camartin. „Also: kein Alban Berg, eine absolute Sünde…! Keine ‚Lulu‘, kein ‚Wozzeck‘, kein Benjamin Britten und damit kein ‚Peter Grimes‘. Und aufhören wollte ich ursprünglich mit einer ganz anderen Oper, die für mich eine der grössten im 20. Jahrhundert ist: ‚Le dialogue des carmélites‘ von Francis Poulenc. Dort ist die Liebe ins Religiöse verlagert und es ist wahnsinnig schön…“ Aber eben: auch beim Schreiben über noch so viel Liebe muss man irgendwann mal einen Punkt setzen. Und den hat Iso Camartin nach 368 Seiten bei „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss gesetzt.
Verglichen mit der Liebe in anderen Künsten ist die Liebe in der Oper etwas anderes. „Sie ist gleichzeitig abstrakter und konkreter“, sagt Iso Camartin. „Wenn man die Liebe im Sinne von Lebensauthentizität betrachtet, dann ist sie in der Oper abstrakter. Wenn man sie aber nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Ohren wahrnimmt, dann bekommt sie dank der Musik einen ganz weiten Raum. Es geht noch einmal eine Dimension mehr auf. Besungene Liebe! Wir wollen die Liebe ja nicht plattreden. Und das Liebesvokabular ist nun mal sehr repetitiv. Wenn man immer nur sagt: ich liebe dich, ich liebe dich… wird es trivial. Wenn man singt, wird es substantiell.“
"Oper ist ein Hochamt"
Seit rund 50 Jahren besucht Iso Camartin Opern. Mit Musik ist er allerdings bereits zuhause im Bündnerland als Kind aufgewachsen. Der Vater spielte Flügelhorn und Trompete und war im Kirchenchor, die Mutter sang bei der Hausarbeit rätoromanische Lieder. Und Iso selbst entdeckte seine grosse Liebe zur Musik in der Klosterschule Disentis bei Pater Flurin, mit Bruckners 2. Messe in e-Moll. Für Iso Camartin das Schlüsselerlebnis. „Noch heute berührt mich Bruckners e-Moll-Messe wie kaum eine andere,“ schreibt er rückblickend. Von da an war es nur noch ein Schritt zur Oper.
Opern-Enthusiasmus, findet Iso Camartin, ist ein ganz spezifischer Enthusiasmus. „Opernhäuser sind ja in gewissem Sinne Kathedralen der Kunst und die Oper ist eine festliche Art von Kultur. Religiös betrachtet könnte man sagen: die Oper ist ein Hochamt, keine kleine stille Messe irgendwo in einer Kirche. Und ein Hochamt muss gefeiert werden. Es muss gut inszeniert werden, denn billig und schäbig gemachte Opern sind unausstehlich.“
Am liebsten rausgelaufen
Früher habe es ja auch noch Bekleidungsregeln gegeben, meint Camartin mit einem Schmunzeln. „Ich kann mich erinnern, dass ich mich in München mal für amerikanische Studenten gegen bayerische Beamten eingesetzt habe, die sagten: ohne Krawatte kommen sie hier nicht rein. Ich war empört und fand, das können die doch nicht machen! Aber das war noch vor ‘68….“ Heute ist es mit dem Dress-Code lockerer.
Inzwischen hat Iso Camartin unzählige Opern gesehen. Gab es dabei auch Aufführungen, die ihn regelrecht umgehauen haben? „Umgehauen? Das heisst für mich ein emotionaler Umsturz in dem Sinne, dass man seiner selbst nur noch halb mächtig ist und zum Beispiel weint.“ Und da erinnert er sich an einige solcher Überwältigungsaugenblicke. „Zu Beispiel in Berlin. Da sang Angela Maria Blasi die Zdenka in ‚Arabella‘. Und sie war für mich so jung, hilflos und verloren und sie war gleichzeitig von einer derartigen Innigkeit und Zutraulichkeit, das war eine Art von frischer Liebe, die eigentlich in der Welt gar keine Chance hat. Und da ist man als Zuschauer total dahin…“ Oder Lucia Popp als Elsa im ‚Lohengrin‘: „Da gab es Augenblicke, in denen man fand, schöner geht es gar nicht“. Aber auch Vesselina Kasarova in Monteverdis „Ritorno d’Ulisse in Patria“ in Zürich. „Bei ihrer ersten grossen Arie, dem ‚warum kommst du nicht zurück‘, wäre ich am liebsten aufgestanden und rausgelaufen und hätte gesagt, das war so phantastisch, ich will jetzt gar nichts mehr hören.“
Harnoncourt - sich gekugelt vor Lachen
Die grossen Emotionen, dieses völlige Hinwegschmelzen, diese Momente des Leiden, des Mit-Leidens, aber auch des Mit-Lachens auf der Bühne, hat Iso Camartin immer wieder erlebt. „Da gab es mal eine Vorstellung von ‚Nozze di Figaro‘ mit Nikolaus Harnoncourt und Cecilia Bartoli hat die Susanna gesungen. Und sie hat dermassen… wie soll ich sagen…auf der Bühne herumgealbert, ‚s’Chalb‘ gemacht, aber so phantastisch, dass Harnoncourt sich im Orchestergraben gekugelt hat vor Lachen… das war einfach spontan an einem Abend.“ Und überhaupt: Cecilia Bartoli: „Es ist jedes Mal ein grosses Erlebnis. Selbst, wenn sie ‚Nina‘ von Giovanni Paisiello gesungen hat, was ja nicht so eine grossartige Oper ist…, dann hat man drin gesessen und gesehen, was man aus so einer schwachen Opernfigur machen kann, wenn es jemand wie die Bartoli macht.“
Die Oper ist kein Spiegel der Wirklichkeit, sie ist künstlich, manchmal geradezu absurd und begeistert trotzdem. Wieso eigentlich? „Weil sie eine andere Realität ins Leben einführt“, sagt Iso Camartin. „Der Realitätstest in der Oper fällt immer zugunsten der Oper und gegen die Realität aus. Also: man überlegt nicht, ob es mit der Realität vereinbar ist, dass man so stirbt, wie man in der Oper stirbt. Gerade bei Verdi sterben die Leute eine Viertelstunde lang bei schönster Vollkraft, alle Fähigkeiten sind noch da und dann entschweben sie mit dem Orchesterklang…“ Ja, so hätte man’s doch auch gern… wenn es dann mal so weit ist.
Zuvor aber nimmt Iso Camartin seine Leser mit auf die grosse Reise in die Welt der Oper, mit dem Ziel, deren Liebe zur Oper noch etwas Stoff zu liefern Dahinter steckt eine klare Absicht: „Mir wäre es am liebsten, wenn Leute, die das Buch lesen, hinterher in die Oper gehen, auf ganz bestimmte Stellen warten und dann sagen: ja genau, darüber habe ich doch gelesen…“ Und sie werden dies durchaus mit Gewinn tun und vielleicht auch ihren Alltag etwas anders wahrnehmen, „weil das Leben für gut Hörende beinahe eine Oper ist“, wie Iso Camartin so schön sagt.
Iso Camartin
OPERNLIEBE
Verlag C.H. Beck
ISBN 978 403 65964 5