Kurz nach dem Bahnhof Olten in Richtung Bern führt die Bahn in einem spitzen Winkel über die Aare. Wer oft auf dieser Strecke unterwegs ist, dem ist die kleine Kiesinsel auf der rechten Seite, also von der Bahnbrücke flussabwärts, vertraut – „war vertraut“, müsste man korrekterweise sagen, denn heute ist sie fast verschwunden.
Das Schicksal zweier Pappeln
Als ich vor über zehn Jahren wöchentlich mehrmals von Zürich nach Bern zu pendeln begann, standen auf der Insel zwei Bäume, vermutlich Pappeln, aber ganz sicher war ich mir nicht, denn dazu war die Distanz zu gross. Sie müssen bereits viele Jahrzehnte dem Fluss getrotzt haben, denn ihre Stämme hatten einen ordentlichen Umfang. Zugegeben, der Baum am oberen Ende der Insel stand schon vor zwölf Jahren schief. Sein Stamm war stark gegen die Strömung geneigt, die meisten Äste hatte er bereits verloren, aber er trotzte bei Hochwasser, wenn die Insel ganz im braunen Wasser verschwand, mit seinen Wurzeln der Erosion der Insel und schützte so den flussabwärts gelegenen zweiten Inselbaum vor den Fluten.
Irgendwann an einem frühen Morgen vor einigen Jahren – ich erinnere mich nicht mehr an das genaue Datum – war der obere Baum einfach weg. Auch dem zweiten Baum hatte das Hochwasser ganz offensichtlich ziemlich zugesetzt, denn dieser stand fortan so schief im Fluss wie einst sein schützender Freund. Als ich vor einigen Wochen wieder einmal mit dem Zug über die Brücke fuhr, lag der übrig gebliebene Stamm fast waagrecht auf der Kiesinsel, hatte alle Äste verloren und schien sich mit letzter Kraft an seine Insel zu klammern wie ein Ertrinkender.
Erneuter Aufbruch
An die kleine Insel in der Aare musste ich unweigerlich denken, als wir am Samstag mit unserem Schiff, der Solveig VII, in Wertheim am Main vorbeifuhren und den Lauf der Tauber hinauf schauten, wo ein paar hundert Meter oberhalb der Mündung des Flusses in den Main ein altes Ausflugsschiff liegt, das dem Motor-Yacht-Club Wertheim als Basis dient.
Ja, wir sind wieder mit unserem Schiff unterwegs. Vor einer knappen Woche sind meine Frau Sibyl und ich nach Frankfurt gereist. Die Solveig lag am Steg der Bootsbaufirma Speck, gut vertäut gegen Sog und Wellen der nahe vorbeifahrenden Frachtschiffe. Dort hatte sie nach der nötig gewordenen Motorenreparatur auf uns gewartet und sich derweil am wunderbaren Blick über den Main auf die Altstadt von Frankfurt-Höchst erfreut.
Übung in Geduld
Zum dritten Mal seit dem Frühling des vergangenen Jahres nehmen wir nun Kurs Richtung Donau. Übung in Geduld, dieses Motto bewahrheitet sich auf Wasserreisen immer wieder neu. Sind es einmal wegen Reparatur gesperrte Schleusen oder ein Hochwasser, durchkreuzt ein anderes Mal eine Panne am Schiff die Pläne. Auch wenn der Vergleich anmassend tönt: Ein bisschen kommen wir uns vor wie Magellan, der mit seinen Schiffen am südlichen Ende von Amerika mehr als ein Jahr nach einer Passage vom Südatlantik in den Pazifik suchte, die Weiterfahrt wegen stürmischen Winden, gefährlichen Strömungen und Meutereien auf den Begleitschiffen immer wieder verschieben und in einer geschützten Bucht den südlichen Winter abwarten musste. Schliesslich fanden Magellan und seine Leute jenen Weg zwischen dem südamerikanischen Kontinent und den vorgelagerten Inseln von Feuerland, der heute als Magellan-Strasse bezeichnet wird.
Auf dem Weg zur Donau geht es harmloser zu: Mit einer Meuterei seiner einköpfigen Mann- bzw. Frauschaft muss der Kapitän der Solveig hoffentlich nicht rechnen. Und überdies trägt die „Passage“ schon einen Namen: Main-Donau-Kanal. In seiner jetzigen Form wurde der Kanal im Jahre 1992 vollendet. Doch darüber ein anderes Mal.
Abbruch einer alten Brücke
Zurück nach Wertheim am Main: Vor drei Monaten hatten wir am Clubschiff des Wertheimer Yachtclubs festgemacht und übernachtet. Abends beim Apéritif auf Deck beobachteten wir damals, wie hundert Meter weiter flussaufwärts ein Bagger von einer künstlich aufgeschütteten Insel aus den Mittelpfeiler einer alten, aus dem typischen roten Sandstein des Spessarts gemauerten Brücke demolierte.
Wir erinnerten uns von einem früheren Besuch an die malerische Brücke, welche vom linken Ufer der Tauber direkt in die zwischen Main und Tauber gelegene Altstadt von Wertheim führte. Der Hafenmeister, ein freundlicher und feinfühliger Mensch, der in einem Altstadthäuschen gleich neben der Brücke wohnt, beschwichtigte unsere Empörung über den Abbruch der alten Brücke. Sie sei baufällig gewesen, aber man würde sie wieder stilgerecht aufbauen. Trotzdem tat es uns in Ohren und Seele weh, als der Baggerzahn mit lautem Quietschen über die roten Quader des Brückenpfeilers kratzte.
Die Rache der Tauber
Doch es kam anders. Die städtischen Baumeister hatten ganz offensichtlich ihre Rechnung ohne die Solidarität zwischen dem Fluss und seiner Brücke gemacht. Als ob sich die Tauber an den Brückenschändern hätte rächen wollen, bescherte sie der Stadt im Juni ein gewaltiges Hochwasser. Meterhohe Fluten überschwemmten die Baustelle und spülten die Aufschüttung, von welcher aus der Bagger seine wüste Tat begangen hatte, hinweg und teilweise bis hinunter in den Main. Anders als die Insel in der Aare bei Olten kämpfte hier in Wertheim nicht ein Baum gegen die Fluten, sondern ein Brückenpfeiler gegen den Menschen, aber in beiden Fällen hatte der Fluss das letzte Wort.
Leider hatte die Rache der Tauber auch Folgen für den erwähnten Hafen. Wie uns ein Schifferkollege sagte, sei die Zufahrt zu den Stegen für grössere Schiffe bis auf weiteres nicht mehr möglich, die Wassertiefe sei zu klein, man müsse zuerst das Flussbett ausbaggern, wenn sich denn dazu überhaupt die Mittel auftreiben liessen.
So fuhren wir diesmal etwas traurig an der romantischen Altstadt von Wertheim vorbei. Von weitem sahen wir die kläglichen Reste der Baustelle, im Fluss aufgeschichtete grosse Plastiksäcke, gefüllt mit Steinen. Die Brücke ist weg, aber von einem Neubau noch nichts zu sehen. Und unser Respekt vor dem Wasser wächst mit jedem Tag, an dem wir auf ihm unterwegs sind.