In Luzern hat Jessie Cox auch diesen Sommer eine eigene Komposition präsentiert. Neue Musik besetzt am Lucerne Festival – als höchst interessanter Bestandteil – einen festen Platz neben den grossen Klassikern.
Rückblickend scheint es so, dass Jessie Cox schon damals in Biel als dreijähriger Knirps genau wusste, was er wollte. Mamas Küchenutensilien hatten es ihm angetan, die Töpfe, die Pfannen und dazu die Kochlöffel. Ums Kochen ging es ihm freilich nicht. Aber mit diesen Dingen konnte man das machen, was er schon damals als eine Art Musik empfand. Andere würden sagen: Lärm. Jessies Mutter deutete den Drang ihres Sohnes jedoch richtig und schickte ihn zur musikalischen Frühausbildung ins Solfège-Programm der Musikschule Biel.
«Meine Mutter hat mir gerade kürzlich wieder erzählt, wie ich damals versucht habe, die verschiedenen Töne herauszufinden. Ich war sechs, als ich das erste Mal ein Schlagzeug gesehen habe. Es hat mich total fasziniert, wie viele Klänge man da gleichzeitig herausholen kann. Mehr als mit der Stimme: Man hat zwei Hände und zwei Füsse, um mit dem Schlagzeug Klänge zu erzeugen.»
Vom Kinderspiel zur Uraufführung
Das ist jetzt rund 25 Jahre her und wir treffen uns im Südpol, einem Kulturzentrum ausserhalb von Luzern, irgendwo im Niemandsland zwischen Autobahn und Lastwagenparkplatz. Hier sind die Kreativen und die Jungen zuhause. So auch das Lucerne Festival Contemporary Orchestra. Vorwiegend junge Leute, Absolventen der Academy und spezialisiert auf neue Musik.
Jessie Cox kommt gerade aus der letzten Probe vor der Uraufführung seines Musik-Stücks «Schattenspiel» für Orchester, eine Auftragskomposition für das Lucerne Festival, das dieses Jahr unter dem Motto «Paradies» steht. Das erste Mal hat Jessie Cox bereits vor zwei Jahren ein Stück für das Lucerne Festival geschrieben, damals noch für «Lucerne forward».
Statt in Biel lebt Jessie Cox mittlerweile seit neun Jahren in New York und studiert an der Columbia University Musik. Gegenwärtig arbeitet er an seiner Dissertation.
Seit den Anfängen mit Mutters Kochtöpfen und Holzlöffeln ist er auf seinem Weg zur Musik unbeirrt und kontinuierlich vorangeschritten und hat sich auch als Komponist etabliert. Bieler Bärndütsch spricht er immer noch. Seine Wurzeln liegen allerdings auch in Trinidad und Tobago, wo sein Vater herkommt.
Einen Raum kreieren
Nun hat Jessie Cox in der Probe sein eigenes Stück zum ersten Mal live und mit grossem Orchester gehört. Im «Lucerne Festival Contemporary Orchestra» sitzen immerhin rund 90 vorwiegend junge Musikerinnen und Musiker. Und? Wie war es für ihn? Jessie Cox strahlt: «Für mich war es ein schöner Moment, dieser erste Klang hier … alle im Orchester haben so viel Energie und Wertschätzung in das Stück und in unsere Zusammenarbeit eingebracht, das Orchester klingt unglaublich gut. In diesem Stück gibt es vieles, das man unterschiedlich interpretieren kann, weil es darauf ankommt, wie man aufeinander hört.» Dann erklärt er, wie er sich das vorstellt. «Mir gefällt diese Metapher: Man kreiert ein Haus, sein Daheim, man stellt Möbel hinein und lädt Gäste ein. Da weiss man auch nicht so genau, über was sie dann reden oder ob sie den Stuhl etwas mehr nach rechts oder links schieben. Aber man hat einen Raum, in dem man zusammen etwas machen kann.»
Und wieviel Einfluss hat der Dirigent beim Einrichten des Raumes, frage ich? «Für mich ist es wichtig, dem Dirigenten und den Musikern sozusagen das Steuerrad zu übergeben, um ihre eigene Vision im Stück zu finden und herauszubringen, statt dass ich sage, so oder so muss es sein. Und Ilan Volkov ist ein unglaublicher Dirigent, mit ihm zu arbeiten ist ein grosses Glück und ich lerne selbst auch viel dabei.»
Garten in der Wüste
Das Motto «Paradies» hat Jessie Cox beim Komponieren sehr inspiriert. «Etymologisch kommt das Wort ‘Paradies’ aus dem Persischen und heisst ‘Garten in der Wüste’, oft mit einer Mauer darum herum. Bei meiner Komposition ging es mir darum, einen Garten zu kreieren, in dem die Mauern nicht so wichtig sind, sondern umgekehrt. Es geht darum, einen Garten zu schaffen in einer Wüste, und wie können wir ihn so machen, dass er für alle ist. Für meine Art von Komposition ist es mir wichtig, hervorzuhaben, wieviel Spielraum auch darin steckt. Also ein Teil ist ganz traditionell komponiert, dann setze ich etwas drauf, das die Komposition wieder etwas unstabil macht, um den Spielraum zu bekommen, in dem die Musiker untereinander interagieren können.»
Und wie bezeichnet man diese Art von Musik? Gibt es da auch Einflüsse von Rock, Hiphop oder Jazz? «Meine Musik hat Einflüsse von fast überall. Ich sage gern: Es ist experimentelle gegenwärtige oder neue Musik. Aber die Idee vom ‘Experimentellen’ bedeutet, nicht einfach irgendetwas auszuprobieren, nur um es ausprobiert zu haben, sondern versuchen, neue Wege zu finden, also zum Beispiel darüber nachzudenken, wie wir zusammen leben oder in unserer Umwelt leben. Das ist für mich das Schöne an der Kunst, dass man sich diese Fragen stellen kann.»
Im Übrigen spielt Jessie Cox weiterhin Schlagzeug, wie er es sich als Dreijähriger schon vorgestellt hat. Kein Wunder, dass der verstorbene Schlagzeuger Tony Williams auch zu seinen Vorbildern zählt. Ebenso Arnold Schönberg, oder die Jazzmusikerin Amina Claudine Myers. Und aus dem Bereich der Klassik? «Beethoven habe ich sehr gern studiert und Bach ist auch sehr interessant, gerade mit Fragen vom Raum.» Und à propos Raum: Weltraum, Astro- und Teilchenphysik interessieren ihn sehr, «und ich forsche über sozialpolitische und philosophische Probleme».
Akustische Bilder
Ein paar Tage später dann das Konzert im KKL. Auf dem Programm steht das «Schattenspiel» für Orchester. «Schattenspiel» – das lässt auf etwas nicht ganz Greifbares schliessen. Der Schatten ist da, und das, was den Schatten wirft, sieht man nicht. Es muss etwas Konkretes sein, das man anfassen kann, sonst könnte es keinen Schatten werfen, aber es bleibt wohl unserer Phantasie vorbehalten, was es sein könnte.
Aber da sind auch Klänge, die uns vielleicht etwas verraten können. Am Anfang fährt es mächtig ein, dann wird es leise, etwas lauernd und ganz zart mit der Geige. Sehnsüchtig und abwartend, dann ganz entspannt. Akustische Bilder.
Manchmal gleicht das «Schattenspiel» den Wolken am Horizont, die sich auftürmen und in sich zusammenfallen, sich wieder aufbäumen, ein Grummeln aus der Ferne, ein sich anbahnendes Gewitter? Dann Stille … und viel Applaus. Schön war’s.