Immer wieder hatten wir miteinander zu tun. Immer wieder rückten wir zusammen aus und kamen mit Material für einen «Tagesschau»-Beitrag zurück. Das ist ein paar Jahre her. Damals arbeiteten wir beide für das Schweizer Fernsehehen. Sie als Kamerafrau, ich als Reporterin.
«Sie» – das ist Sarah Derendinger, deren Name ich später im Programmheft des Zürcher Opernhauses wieder entdeckt habe. «Video: Sarah Derendinger» hiess es da. Auch dies ist inzwischen ein Weilchen her. Aktuell steht ihr Name im Programmheft des Grand Théâtre in Genf, wo sie in der Eröffnungsproduktion der Oper «Krieg und Frieden» von Sergei Prokofjew die Videos beisteuert.
Statt in Genf sitzen wir allerdings in einer Garderobe des Zürcher Opernhauses. Die Videos für Monteverdis «L’incoronazione di Poppea» müssen teilweise ersetzt werden, weil es die eine oder andere Umbesetzung gegeben hat seit der Premiere 2018. Folglich prangen nun ein paar andere Gesichter auf den Bildschirmen.
Von Videokunst bis Lüthi & Blanc
Wie aber bist du überhaupt vom Drehen für den kleinen Fernsehbildschirm zu Videos auf der grossen Bühne gekommen, frage ich Sarah Derendinger.
«Ich habe Videokunst studiert», sagt sie. «Dann habe ich mich im Theater mit Videoinstallationen beschäftigt und mit Kunstfilm. Im Fernsehen habe ich Basis-Arbeit gemacht, keine Kunst, aber wahnsinnig viel gelernt. Zuerst war ich Kamerafrau, dann konnte ich in die Regie wechseln, auch Live-Regie, ich habe zum Beispiel auch bei Lüthi & Blanc als Regisseurin gearbeitet und viel Erfahrung gesammelt.» Als erste Frau übrigens, auf diesem Posten …
Diese Fernseh-Erfahrungen kommen ihr nun bei der Theaterarbeit wieder zugute. «Was ich hier in Zürich bei ‘Poppea’ gemacht habe, ist eine Kombination von allem. Ich integriere fünf Live-Kameras auf 15 Screens, das sind sozusagen 15 kleine Livesendungen … Da kann ich mein Hintergrundwissen super einsetzen.» Eine Zeitlang habe sie gedacht, dass sie nichts mehr im Theater machen würde. Die technischen Möglichkeiten waren begrenzt und sie wollte mehr ... sie wollte den Bogen erweitern, und das ging damals noch nicht. «Aber in den letzten Jahren ist es immer spannender geworden», sagt sie voller Begeisterung. «Dank neuer Technik ist das jetzt möglich – und bezahlbar! Früher brauchte man für verschiedenes extra einen Übertragungswagen, heute geht das auch mit kleinem Gerät.» Und kleinerem Budget … was nicht unwesentlich ist.
Das Innen auch aussen sichtbar machen
Videos, als Teil des Bühnenbildes, haben sich in den letzten Jahren stark durchgesetzt. «Video ist etwas Unmittelbares», sagt Sarah Derendinger. «Man kann sofort etwas sehen. Das war neu gegenüber Filmeinspielungen. Dann haben viele Regie-Teams angefangen, Video einzusetzen. Die Möglichkeit, etwas zu zeigen, das man ohne Video nicht sehen würde, war verlockend: Man kann das Innen nach aussen sichtbar machen, zum Beispiel was in einem geschlossenen Raum auf der Bühne passiert. Man hat buchstäblich den Blick hinter die Kulissen.» Diese neue, zusätzliche Dimension ist aber auch anspruchsvoll in der Durchführung. «Da hilft mir meine Live-Regie-Erfahrung vom Fernsehen, zumal sich auch die Technik des Fernsehmachens entwickelt hat. Die Erfahrungen des einen Mediums ins andere einzubringen ist grossartig.»
Der Einstieg in die Theaterarbeit war nach ihrer Tätigkeit beim Fernsehen die Produktion «Die Soldaten», 2013 am Opernhaus Zürich. Der spanische Opernregisseur Calixto Bieto führte Regie. Und Sarah Derendinger lieferte die Videos, die damals wegen der Projektoren nur begrenzte Möglichkeiten hatten. «Inzwischen haben wir mehr Licht-Power und jetzt kommen auch die LED-Screens, die wir nun auch in Genf einsetzen. Dann wird das Video zur Lichtquelle. Das ist noch einmal eine neue Ebene.»
Mit Calixto Bieto arbeitet Sarah Derendinger seither regelmässig zusammen. Sie gehört sozusagen zum festen Team, das eine Inszenierung aus verschiedenen Gesichtspunkten gestaltet: Bühnenbild, Kostüme, Licht, Video und natürlich der Regisseur, der alles unter ein Dach bringt.
Apokalypse und Delirium
Diesmal also «Krieg und Frieden» in Genf. Die Vorlage hat Leo Tolstoi mit seinem gewaltigen Roman geliefert. Sergei Prokofjew hat den Stoff 1941 in eine Oper umgesetzt. «Bieto hat von vornherein gesagt, dass es für ihn keinen Frieden in dieser Oper gibt», sagt Sarah Derendinger. In Bietos Inszenierung gehe es um den inneren Krieg jedes einzelnen. «Jeder hat den Krieg in sich selbst, und verpasst dabei das Leben … Bei Bieto sind die Figuren, jede für sich, eingesperrt in einem Raum, aus dem sie nicht herauskommen, bis das Ganze in einer riesigen Apokalypse aufbricht und schliesslich ins digitale Zeitalter und ins Delirium führt. Und dies wird im Video umgesetzt. Bildlich fangen wir in einem klassischen realen Raum aus der Ermitage in St. Petersburg an. Wir haben ihn 1:1 nachgebaut. Hinten gibt es eine Leinwand und einen Spiegel, in dem über Video verkrümmte Gesichter und Fratzen sichtbar werden.»
Faszinierend war für sie der Arbeitsprozess, diesen grossen klassischen Stoff auf die Bühne zu bringen. «Ein Drittel der Arbeit besteht aus Lesen. Da überlegt man sich, was kann an diesem Stoff für Menschen von heute interessant sein. Und ich frage mich, welcher Teil ist Video. Die Bühnenbildnerin kommt mit einer ersten Idee und da sehe ich, wo Projektoren sein könnten aber wirklich entschieden wird erst auf den Proben, wenn man sieht, wie auch die Sänger ihre Rollen entwickeln. Ich warte immer erst ein bis zwei Wochen, bevor ich Videos drehe, weil sich noch so viel verändern kann. Und ich muss meine Bilder immer wieder anpassen. Das geht bis zum Schluss so weiter.» Wie aus dem Nebel schält sich dann das endgültige Bild der Aufführung heraus. «Dieser Prozess ist grossartig», schwärmt sie, «und dann die Musik …!!! Diese grosse Musik voller Power. Die ganze Inszenierung ist riesig, in jeder Beziehung …!».
Mit «riesig» hat sie wohl recht … vier Stunden dauert die Aufführung.
«War and Peace» von Sergei Prokofjew
Grand Théâtre Genf
bis 24. September 2021