Der magische Moment, die günstige Gelegenheit, die Chance, die es zu ergreifen gilt – dafür hatten die alten Griechen und in der Folge viele christliche Denker bis heute einen Begriff: Kairós. Sie kannten darum zwei Zeiten, die „normale“ oder chronologisch-zyklische Zeit – ihr zur Seite stand der unwiederbringliche Zeitpunkt. Für beide hatten die Griechen ihre Götter: Chronos, den Gott für die lineare und messbare Zeit, und seinen Bruder Kairós, den Gott des richtigen Augenblicks.
Die Chance beim Schopfe packen
Ein Altar des Kairós soll beim Eingang zum Stadion im antiken Olympia gestanden haben. Kairós, jüngster Sohn des Zeus, ist der Hüter des glückhaften Augenblicks, in dem gelingen kann, was vorher und nachher vielleicht nicht glückt; er ist der Gott jenes Augenblicks, den es spontan zu erkennen und zu ergreifen gilt. Eine berühmte Statue stellt diesen Gott so dar, wie er mit den Zehenspitzen leicht den Boden berührt und auf seinen beflügelten Füssen flüchtig vorübereilt. Kairós hat eine grosse Stirnlocke und einen kahlen Hinterkopf.
Die Original-Bronzeskulptur aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. ist verloren. Doch an das charakteristische Merkmal von Kairós erinnert uns die Alltagssprache. Noch heute sagen wir: Man soll die Gelegenheit beim Schopfe fassen. Wer den günstigen Zeitpunkt ergreifen will, muss dies beim Herannahen tun, muss die grosse Locke von vorne packen, muss zugreifen. Der Gott Kairós ist für den, an dem er vorbeigeeilt ist, nicht mehr fassbar. Die günstige Gelegenheit ist vorbei und vorüber, unwiderruflich. Der kahle Hinterkopf lässt sich nicht packen; die Hand rutscht ins Nichts einer vertanen Gelegenheit.
Vom Wert pädagogischer Freiheit
Statuen des Kairós schmückten auch antike Gymnasien. Mit Bedacht. Die Griechen wussten um den Wert des Augenblicks im Bildungsprozess. Dieser Augenblick kann beflügeln und zu Ausserordentlichem führen. Moderne Bestseller beschreiben den Glanz der Gelegenheit darum mit süffigen und trendigen Titeln wie „Blink! Die Macht des Moments“ (Malcolm Gladwell).
Die Magie dieser Momente ist verbunden mit Freiheit. Freiheit sei für die Bildung die erste Bedingung, schrieb Wilhelm von Humboldt. Doch sie erstickt heute zunehmend in engen Lernparadigmen und einer Fülle von Vorschriften. Eine künstlich konstruierte Komplexität normiert vielerorts den pädagogischen Alltag und engt den Freiraum ein. Das Spontane und Nichtplanbare des Unterrichts schwinden. Ausserordentliches und Norm schliesst sich aus.
Nicht umsonst warnte der Ökonom Bruno S. Frey vor einiger Zeit, dass der Freiraum der Lehrpersonen zugeschüttet werde mit „modischem Klimbim“. Ähnlich formulierte es die renommierte St. Galler Professorin für Volkswirtschaftslehre, Monika Bütler: „Die Vorschriften […] zeugen von einem eklatanten Misstrauen in die Lehrerinnen und Lehrer.“ Sie fordert darum den nötigen Freiraum – oder eben eine Rehabilitation des Kairós.
Das neue Mantra
Autonomie gilt heute primär auf Schülerebene. „Selber!“ Dieses (Zauber-)Wörtlein dominiert zeitgemässe Lehrpläne: Heute sollen die Schüler ihr Lernen selber regulieren. Schülerinnen sollen sich selber organisieren und selber verstehen, was sie tun müssen und was sie lernen. Selbstaktivität, so lautet das aktuelle pädagogische Paradigma. Ein übertriebenes Autonomiepostulat erschwert die Zusammenarbeit im sozialen Miteinander. Die Gefahr ist gross, dass die Schüler letztlich Lerneremiten bleiben.
Im Unterricht sind alle Lehrende und Lernende. Schülerinnen und Schüler organisieren ihr Lernen selber und übernehmen planmässig Lehrfunktionen. Sie beurteilen auch selber, wodurch sie ihre Selbstbeurteilungskompetenz steigern. So fordert es die neue Lernkultur, so postuliert es der Lehrplan 21. Mantramässig.
Da taucht die Frage auf: In welchem Masse traut man eigentlich den Lehrerinnen und Lehrern zu, dass sie sich selbst organisieren und das tun, was sie für richtig und wichtig halten?
„Ganz wenig Text und ganz viel Denkanstrengung“
Was Freiheit und die humane Energie des Moments im gemeinsamen Unterricht bedeuten können, beschreibt die deutsche Gymnasiallehrerin Marga Bayerwaltes in ihrem Buch „Grosse Pause! Nachdenken über Schule“. Bei ihr lesen wir: „Ganz wenig Text und ganz viel Denkanstrengung und die gegenseitige […] Beflügelung durch das Gespräch. Am Ende solcher Stunden wollten die Schüler nie gehen.“
Magie und Freiheit des Augenblicks. Das lebendige Gespräch führte Lehrerin und Schüler zusammen; die gemeinsame Reflexion brachte sie vorwärts. Sokrates, Georg Christoph Lichtenberg, Theodor Adorno, Martin Wagenschein – sie sind da nicht fern.
Die Lehrperson als Managerin des Kairós
Natürlich verläuft nicht jede Lektion so. Das wissen alle Lehrpersonen. Einen neuen Sachverhalt gemeinsam erschliessen, ihn individuell erproben, sich darüber im Gespräch Gedanken machen und sie vernetzen sowie das Gelernte dann vielfältig trainieren und festigen – das ist schulische Alltagsarbeit. Die Normalität ist unspektakulär; sie beinhaltet das Eigentliche und Wesentliche des Bildungsgeschehens.
Gleichzeitig müssen wir in den Schulen aber an das Ausserordentliche glauben und den Mut dazu hochhalten. Darum sollten wir uns von den engmaschigen und allzu detaillierten Vorgaben eines Plansolls lossagen. Der Lehrplan ist ein Regulativ, aber keine Handlungsanweisung; der standardisierte Weg zum Bildungsziel verhindert das Einbeziehen von Spontanphänomenen und verbannt den Kairós. Er wäre aber für die Jugendlichen und ihre autonome Entwicklung enorm wichtig.
Kairós‘ Statue stand in den Schulen des antiken Griechenland. Als Symbol. Seine Zeit ist nicht abgelaufen. Im Gegenteil! Zeit, ihn neben seinen Bruder Chronos zu stellen und an den Wert des pädagogischen Augenblicks zu erinnern. Vielleicht als Leitmotiv fürs neue Schuljahr.