Indes zeigt das Beispiel, dass Integration möglich ist. Beide Vorfahren kamen jung in die Schweiz, der eine als anti-ultramontaner Historiker ins christkatholische und später ins protestantische Bern, der andere weil er als Deutsch-Belgier im ersten Weltkrieg nicht gegen Landsleute schiessen wollte. Beide haben in Bern "echte" Schweizerinnen geheiratet, Familien gegründet und Nachfahren gehabt, die unter anderem Lehrer, Gewerkschafter und Bundesbeamte geworden sind und sich mindestens ebenso sehr als Schweizer fühlen wie direktere Nachfahren von William Tell.
Was würde „Bild“ dazu sagen?
Auch wenn die Deutschschweizer und die Deutschen Leute sind, die, entsprechend dem Bonmot über Amerikaner und Engländer, “unsere gemeinsame Sprache trennt“, ist auch allgemein volle Integration möglich und wohl die Regel. Und doch ertappt sich dieser Chronist seit seiner Rückkehr in die Schweiz, nach langen Jahre im nicht germanofonen Ausland, immer wieder beim aktuellen und populären Stossseufzer über "diä chaibe vilä Tüütsche bi öis".
Was eben auch stimmt. Wie Wolfgang Koydl, Schweiz-Korrespondent der „Süddeutschen“ in einem sympathischen Artikel in seiner Zeitung und im Tagi vom 27.4. zum Thema festhält, würden sich „Bild“ und die bundesdeutsche Politik wohl überschlagen, wenn in der Bundesrepublik eine proportionale Anzahl von EU-Ausländern einreisen würden, wie dies allein die rund 350‘000 Deutschen in der Schweiz darstellen.
Anlässlich eines kürzlichen Weiterbildungsseminars für eigene Mitarbeiter an einer führenden schweizerischen Universität habe ich mir während einem der - wenigen! - langweiligen Referate einen Sport daraus gemacht, anhand von Familiennamen und Akzenten aller Teilnehmer, Referenten und Zuhörer, den Anteil jener aus dem grossen Kanton zu bestimmen. Es waren nicht ein Drittel, nicht die Hälfte sondern rund zwei Drittel. Kein Zweifel, insbesondere in den liberalen Berufen, so etwa in der Ausbildung, im Gesundheitswesen und in den Medien der Deutschschweiz sind viele Deutsche tätig, in einzelnen Bereichen und an einzelnen Orten leicht eine Mehrheit.
Alemannisch und Schriftdeutsch
Was tun also als Zweit-, Dritt- und mehr Generationen–Alemanne angesichts eines Chors von Akzenten aus Gebieten nördlich des Rheins? Der erster Ratschlag wäre sich auf Substanz und nicht auf Form zu konzentrieren. Das erwähnte Seminar war nämlich zu einem weit überwiegenden Teil äusserst interessant, nicht trotz, sondern gerade wegen einem Vibraphon spielenden Wirtschaftstheoretiker aus Berlin, einem Neurologen aus Bonn, der in seiner tonalen Powerpoint-Präsentation die Wege von Werbebotschaften in unserem Gehirn farbig nachzeichnete, einer ehemaligen deutschen Regierungssprecherin, die heute als Professorin an besagter Uni tätig ist etc.
Was die Form anbelangt ist die Erkenntnis, auf beiden Seiten, grundlegend, dass Alemannisch und Schriftdeutsch zwei verschiedene Sprachen sind, deren akzentfreie Beherrrschung nicht jedem und vor allem nicht automatisch gegeben sind, was glücklicherweise zum gegenseitigen Verständnis zwischen Deutschen und Deutschschweizern in aller Regel auch nicht nötig ist. Schuster bleib bei deiner Sprache gilt hier uneingeschränkt. Nichts tut ja schweizerischen Ohren mehr weh als Diminutiv-"lis" allüberall.
Also unbedingt "Kartoffel" und nicht "Ärdäpfeli". Umgekehrt von Schriftdeutsch sprechenden Schweizern aber auch „dann wollen wir einmal genau hinschauen“ und nicht „ ..hin g(hh)ucken“ (das altalemannische „guggä“ wird nur noch von älteren Berner Oberländern gebraucht. Und allenfalls von Oberwallisern, die aber eine wiederum andere Sprache sprechen).
Ein teutonischer Selbstversuch
Am einfachsten ist es ohnehin, wenn alle an einem gesamtschweizerischen Gespräch Teilnehmenden sich des Englischen bedienen. Zwischen jüngeren Deutsch- und Welschschweizern ist dies die Regel. Leider, aber das ist eine andere Geschichte.
Integrationswille beinhaltet zweitens auch bewusstes Eintauchen in die Welt des Anderen, auf der Strasse, beim Einkaufen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln und in Sportstadien. Um "Bäärn isch behssär" zu verstehen, muss man weder Sprachkünstler noch SCB-Fan, aber bereit sein, den Schlachtruf im Allmendeisstation auch einmal live mitzuhören.
Entsprechende Ratgeber bestehen zuhauf. Besagter Wolfgang Koydl hat in einem "teutonischen Selbstversuch" „33 Dinge, die man in der Schweiz unbedingt getan haben sollte“ (Orell Füssli Verlag, 2013) zusammengestellt. Obwohl der Chronist als Schweizer nur wenige davon so direkt ausprobiert hat, sei diese amüsant und fliessend geschriebene, weitgehend "schpassvögölifrä-i" (für Nichtalemannen: scherzkeksfreie) Schrift zur Lektüre und Nachahmung empfohlen.
Für jene, die kommen und sich einleben und einfügen wollen und sollten. Aber auch für Einheimische, egal ob sie seit 100 oder 1000 Jahren Schweizer sind. Historisch gesehen sind wir alle einmal neu angekommen.