Paris ist kalt und grau an diesem Nachmittag. Die Dächer, das Häusermeer, der Himmel, die leicht vernebelte Weite. Sogar der Eiffelturm ist von hier aus nur schemenhaft zu sehen. Es ist der Blick aus der grossen Fensterfront des Büros von Philippe Jordan, hoch oben im achten Stock der Pariser Bastille-Oper. Atemberaubend, trotz Grau in Grau.
Alles andere als Grau in Grau ist Philippe Jordans Welt und vermutlich lässt er den Blick nur selten über die grauen Zink-Dächer schweifen, weil er ganz anderes zu tun hat.
Am Morgen referierte er in seiner Funktion als musikalischer Leiter der Pariser Oper an einer Pressekonferenz über den neuen Spielplan der nächsten Saison. Am Vorabend stand er viereinhalb Stunden, bis gegen Mitternacht, unten im Orchestergraben der riesigen Bastille-Oper und hat Wagners «Lohengrin» dirigiert. Jubel brandete ihm und dem Orchester nach der langen Vorstellung entgegen. Begeisterung aber auch für Jonas Kaufmann, der nach Monaten mit Stimmproblemen endlich wieder auf der Bühne steht. Und in Gedanken ist Philippe Jordan schon bei «Cosi fan tutte». Das Mozart-Stück hat am nächsten Tag Premiere in der altehrwürdigen Opéra Garnier. Wieder unter seiner musikalischen Leitung.
Verrückt, dieses Pensum, denkt man.
«Das klingt vielleicht nach viel, aber es ist Kapellmeister-Alltag», winkt Philippe Jordan ab. «Es ist eine Frage der Planung und der Konzentration. Und etwas Ruhe braucht man dazwischen natürlich auch. Man muss sich vor allem auf das Stück konzentrieren, das man gerade aufführt.»
Heute Wagner, morgen Mozart, übermorgen Verdi
«Lohengrin» und «Così fan tutte» sind zwei ganz unterschiedliche Werke. Beflügelt das eine vielleicht sogar das andere?
«Absolut! Man ist nicht so fokussiert auf ein einzelnes Werk. Man muss sich jedes Mal wieder auf das Stück einstellen, als wäre es das erste Mal und so hat man immer wieder einen frischen Zugang. Für das Orchester ist es ohnehin normal, jeden Tag etwas anderes zu spielen. Auch ein Dirigent muss schnell umschalten können: heute Wagner, morgen Mozart, übermorgen Verdi ... das gehört zum Job. Heutzutage gibt es so viele Spezialisten, die machen nur Barock oder nur Zeitgenössisches oder wollen ausschliesslich als Mozartspezialisten gesehen werden. Das gilt auch für Sänger. Aber dieses Spezialistentum ist falsch. Wie soll man gut Wagner singen, wenn man sich nicht mit Mozart abgegeben hat?»
Wenn Philippe Jordan das so sagt, klingt es ganz einleuchtend und einfach. In Wirklichkeit steckt harte Arbeit, viel Disziplin und natürlich eine grosse Liebe zur Musik dahinter. Und für all dies erntet er am Schluss der Vorstellung auch sofort Applaus, Jubel und Begeisterung. Die beste Energiequelle, die man haben kann.
Der «Lohengrin», den Philippe Jordan soeben in Paris geleitet hat, war ohnehin auch für ihn etwas Besonderes, da er das Stück zum ersten Mal dirigiert hat, obwohl er sich seit Jahren intensiv mit Wagner beschäftigt. In der Titelrolle: Jonas Kaufmann, der Superstar unter den Tenören, der zuvor monatelang wegen Stimmproblemen aussetzen musste. Würde er es schaffen, nun in Paris in dieser grossen Partie wieder ganz bei Stimme zu sein? Kaufmann schaffte es und brillierte als Lohengrin in einer Aufführung, die so gar nichts antiquiert Wagnerianisches hat und in der die Musik wie neu erklingt: leicht, luftig, transparent und mit französischer Eleganz.
Das kommt gut an in Paris und in den acht Jahren, die Philippe Jordan jetzt hier ist, hat er aus Paris eine Wagnerstadt gemacht: Gleich zu Beginn mit dem «Ring des Nibelungen», über «Tristan und Isolde» und «Meistersinger» bis jetzt zum «Lohengrin». «Parsifal» folgt 2018. Erstaunlich, im französischen Umfeld. Philippe Jordan sieht es anders. «Unter den Franzosen gab es schon immer einen grossen Wagner-Kreis», sagt er, «und wenn man nach Bayreuth geht, hört man viel Französisch.» Inzwischen hat sich dieser Kreis der Wagnerianer dank Jordans Aufführungen in Paris erweitert. «Es herrscht grosse Begeisterung, Wagner wird akzeptiert und die Vorstellungen sind immer ausverkauft. Bei den ‚Meistersingern‘ hatten viele Leute Angst vor der Länge von sechs Stunden. Hinterher sagten sie, sie hätten gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen sei, weil es ein Komödienabend im besten Sinne gewesen sei, intelligent und mit tollen Sängern.»
Die Spezialität des Hauses: Wagner à la sauce française
Was Philippe Jordan da serviert, ist das, was die französische Zeitung «Libération» so schön als «la recette favorite du chef» umschreibt: «Wagner à la sauce française.» Auf diese musikalischen Kochkünste angesprochen, lacht Philippe Jordan. «Für mich ist es wichtig, dass man mit einem französischen Orchester Verdi im italienischen Stil und Wagner im deutschen Stil spielt. Alles andere geht nicht. Trotzdem hat ein französisches Orchester seine Eigenheiten und Feinheiten und eine Eigenpersönlichkeit. Es tut dieser Musik sehr gut, wenn man Wagner nicht so schwer, so clichéhaft belastet und laut spielt, sondern wenn man versucht, es transparenter und menschlicher zu machen. Dazu ist ein französisches Orchester geradezu prädestiniert, weil die Streicher nicht so schwer spielen, die Holzbläser sind flexibler und das Blech ist weniger schwerfällig. Das heisst, der Mythos bleibt bestehen, aber es ergibt etwas Klares, Durchsichtiges. Man kann das mögen oder nicht, aber ich glaube, ein grosser Teil des Publikums sagt: ich dachte eigentlich, Wagner mag ich nicht, mais voilà, jetzt gefällt er mir!»
Die «Meistersinger» werden Philippe Jordan dieses Jahr noch weiter beschäftigen. Paris, so könnte man fast sagen, war so etwas wie die Generalprobe für Bayreuth. Dort wird Jordan im Sommer die Festspiele mit einer Neuproduktion der «Meistersinger» eröffnen. «Die ‚Meistersinger‘ sind eigentlich das undankbarste Stück für Bayreuth», sagt Philippe Jordan. Undankbar? «Ja, man könnte sogar sagen: es ist unrealisierbar. Die Akustik, dieser bei ‚Parsifal‘ so mystische Orchesterklang, ist einfach nicht für die ‚Meistersinger‘ geschaffen. Das ist ein Handwerkerstück wie Lorzing oder Mendelssohn, oder sogar wie ein ganz früher Bach. Nicht nur wegen der Choräle, sondern auch wegen der Prügelfuge. Diese an Bachs Passionen erinnernden Chöre transparent und klar artikuliert rüber zu bringen, das ist schon tricky … das ist die grosse Herausforderung in Bayreuth, und das ist auch die grosse Herausforderung jedes Dirigenten. Es wird eine äusserst spannende Erfahrung, aber ich freu’ mich darauf!»
Man merkt: draussen ist es zwar noch kalt, aber die «Meistersinger» köcheln schon ganz heiss in Philippe Jordans Kopf. Nach Paris und 2010 in Zürich werden es die dritten «Meistersinger» für ihn. Sein Debut in Bayreuth hatte Jordan vor fünf Jahren mit einem umjubelten «Parsifal» gegeben. Und nun wird er also die Festspiele eröffnen. Als Regisseur steht ihm Barry Kosky zur Seite, der Zürich im vergangenen Jahr – zusammen mit Teodor Currentzis – einen phänomenalen «Macbeth» beschert hatte. Spannende Aussichten also für Philippe Jordan. Und auch fürs Publikum.
Zunächst aber dirigiert er noch «Cosi fan tutte» in der prächtigen Opéra Garnier. Auch dies eine Aufführung, die überrascht und das Publikum polarisiert. Die belgische Choreographin Anne Teresa de Keersmaeker hat den Sängern in Mozarts Oper Tänzer zur Seite gestellt, die das ausdrücken, was weder in Worten noch in Noten gesagt werden kann. Eine radikal-abstrakte Lösung: cool und kühl, die aber niemanden kalt lässt.
Paris und Wien und dann?
Neben Paris hat Philippe Jordan ein zweites Standbein in Wien, wo er die Wiener Symphoniker seit zwei Jahren als Chefdirigent leitet. Alles in allem ein grosses Pensum, das ihm aber auch viel Erfahrung einbringt. Dabei ist Jordan erst 42 Jahre alt. Kein Wunder also, dass sein Name immer wieder fällt, wenn irgendwo ein wichtiger Posten besetzt werden muss. Und zurzeit ist vieles in Bewegung. «Ich werde immer wieder als Kandidat genannt, weil ich einer der wenigen, wirklich erfahrenen Operndirigenten bin», meint Jordan. «Viele grosse neue Dirigenten konzentrieren sich auf Konzerte und beherrschen das Opernhandwerk zu wenig. Mein Vertrag hier in Paris läuft bis 2021», sagt er. Bis zu diesem Zeitpunkt ist auch Stéphane Lissner dort Intendant, fügt er bei, und die Zusammenarbeit sei ideal. «Länger bleibe ich wohl nicht. Es werden dann zwölf Jahre sein. Das ist eine gute Zeit. Das Orchester braucht dann neue Impulse, ebenso das Publikum und die Presse … und auch ich muss mich weiterentwickeln. Die Zeiten, in denen man zwanzig oder dreissig Jahre an einem Ort war, sind vorbei. Auch in der Wirtschaft und der Politik.»
Und was dann? «Mal sehen … im Moment sind Gespräche darüber noch kein Thema. Aber ich muss mir überlegen, was ich überhaupt will. Will ich wieder Gastdirigent werden? Ich glaube, eher nicht. Ich mag langfristige Beziehungen, ich möchte das Orchester richtig kennen. Das ist dankbarer, als wenn man jede Woche andere Musiker vor sich hat. Will ich mehr Konzerte machen, oder doch lieber Oper? Ich bin eher ein Operndirigent. Aber Oper ist mit Verantwortung verbunden. Will ich mir so eine Maschinerie noch einmal antun? Wahrscheinlich ja, wenn man mich heute fragt. Aber wer weiss, wie es in fünf Jahren ist.»
Und nun schaut er doch noch mal raus aus dem grossen Fenster auf die grauen Pariser Dächer unter dem verhangenen Himmel.