Die Lehrer seien „die politischen Verlierer“, schrieb die NZZ nach der Zürcher Fremdsprachen-Abstimmung vom 21. Mai 2017.n[1] Gesiegt hätten die Vorgaben der Politik und die nationale Sprachenfrage. Ohne Wenn und Aber. Das ist schon richtig. Im Luhmann‘schen Spiel der Subsysteme setzt die Politik die Ziele, nicht der einzelne Lehrer. Schule und Unterricht haben sie zu erreichen. Und zwar mit allen Kindern.
Genau hier liegt der wunde Punkt: mit allen Kindern – und im heutigen heterogenen Schulalltag.
Den pädagogischen Alltag im Fokus
Wer die konzeptionelle Dachterrasse verlässt und hinuntersteigt ins pädagogische Erdgeschoss, ins Operative, wer genauer hinschaut und Unterrichtslektionen mitverfolgt, der sieht sehr schnell: Die Lehrerin an der Front, der Lehrer im ganz konkreten Alltag sind vielfältig gefordert. Innovationen und Reformen haben ihr Arbeitsfeld in den letzten Jahren radikal verändert. Der Aufgabenkreis wurde stetig ausgeweitet und inhaltlich entgrenzt, der Klassenverband vielfältiger, der Freiraum enger.
Da sind einerseits die frühen und anspruchsvollen Fremdsprachenfächer Englisch und Französisch, anderseits der Wegfall der Kleinklassen und die Integration/Inklusion, wie es das eidgenössische Behindertengleichstellungsgesetz BehiG in Art. 20 Abs. 2 vorschreibt. Zur Aufnahme „behinderter Kinder und Jugendlicher in die Regelschule“ – auch von verhaltensauffälligen – kommt parallel die Zunahme und Integration fremdsprachiger junger Menschen mit Migrationshintergrund. Gleichzeitig haben viele Schulen den Schritt zum altersdurchmischten Lernen AdL vollzogen, auch hier gekoppelt mit dem Postulat der Individualisierung und Differenzierung.
Ein rigoroser Wechsel auch im didaktischen Bereich: Aus dem konstruktivistischen Lehr-Lern-Paradigma und der umfassenden Kompetenzorientierung erwuchs die Dominanz der Selbstorganisation: Selbstreguliert und selbstorganisiert muss das Lernen erfolgen. Schülerinnen und Schüler sollen alles selber aktiv hervorbringen. Der Lehrer wird dabei zum Coach, die Lehrerin mutiert zur Lernbegleiterin. Die Methodenfreiheit fällt weg und damit auch der Wunsch nicht weniger Schüler nach Angeleitet-Werden.
Hektik auf der strukturell-operativen Ebene
Diese vielen Reformen erfolgten zur Hauptsache auf der strukturellen Ebene. Immer in gestaffelten Einzelschritten. Als additiver Teil. Das Ganze wurde nie ins bildungspolitische Blickfeld genommen, das Prinzipielle kaum diskursiv erörtert. Dabei wissen wir aus der Wirkungsforschung: Handeln erfolgt zwar in den Teilen, Sinn und Wirkung aber kommen aus dem Ganzen. Und dieses Ganze hätte einer breit angelegten Grundsatzdebatte und einer klugen strategischen Planung bedurft. Stattdessen wurden primär Strukturen verändert. Doch das Ziel liegt nie in den Strukturen; sie sind immer eine Folge strategischer Entscheide und haben subsidiären Charakter. In der Bildung erzielen Strukturen kaum Wirkeffekte, wie der neuseeländische Bildungswissenschaftler John Hattie in seiner weltweit beachteten Studie „Visible Learning“ eindrücklich nachweist. Wirkung geht von der Lehrperson aus; darum muss man ihr den Freiraum lassen – zugunsten der Kinder.
Symptomatisch für diesen bildungspolitischen Aktivismus im Operativen ist die Aussage der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner nach der Abstimmung vom 21. Mai. Die ungenügenden Resultate in den Fremdsprachen würden mit einer Revision der Stundendotation angegangen: politisches Handeln auf der strukturell-operationellen Ebene – ohne das Grundsätzliche zu thematisieren und nach den Gründen zu fragen. Das Gleiche in der Erstsprache: Nach den dürftigen Deutschkenntnissen vieler Schülerinnen und Schüler und dem Warum fragt niemand. Ungehört verhallt auch die Stimme der ETHZ-Lernforscherin Prof. Elsbeth Stern, wonach mindestens 15 Prozent der Jugendlichen die Schule als funktionale Analphabeten oder Illiteraten verlassen.
Lernen braucht Zeit – und erfolgt in kleinen Verstehens- und Übungsschritten
Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von den Kindern selber. Selbstorientiert und selbstverantwortet. Lernschwächere Schüler (nicht schlechte!) und solche aus bildungsfernem Elternhaus sind benachteiligt. Auch das wissen wir aus der Forschung. [2]
Auf etwas ganz Entscheidendes weist der Hirnforscher Gerhard Roth hin: Wissen und Können müssen viel besser gefestigt werden. Durch intensives Üben. Nur so kann Wissen gezielt vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis „geführt“ und Können automatisiert werden. Und das braucht Zeit, braucht Training, braucht Wiederholung. Darum ist weniger oft mehr.
Die ganze „technologische Aufrüstung“ mit Tablets und die Disposition zur Selbstorganisation können den vital präsenten Lehrer, die vif und engagiert wirkende Lehrerin nicht ersetzen. Lernprogramme können vertiefen, automatisieren; entscheidend aber bleibt die vertrauenswürdige und kompetente Lehrperson, die den Kindern das Neue erklärt und sie zum Verstehen (V) führt und mit ihnen dann trainiert (Ü). Und zwar konsequent. Vielleicht nach der simplen Formel: L(ernen) = V(erstehen) x Ü(ben, festigen,) x A(brufen und anwenden können). Für die beiden ersten Faktoren ist die Lehrperson verantwortlich. Leicht zu erkennen sind die Folgen, wenn ein Faktor gegen null strebt – wenn also z. B. die Festigungsphase wegfällt.
Die Stimme aus der Berufsschule
Diese Übungszeit (Ü) fehlt zunehmend. Dabei verweisen Stimmen aus den Schulzimmern schon länger auf ein offensichtliches Malaise. Von der Unzufriedenheit der Lehrer in Basel-Stadt schrieb die SonntagsZeitung Ende März und sprach gar von einem „Aufstand der Lehrer“. [3] Praktisch gleichzeitig schlugen Hunderte von Berner Pädagogen Alarm; in einem offenen Brief wandten sie sich an die Bildungsdirektion. Grund: die Reformflut. „Jedes Kind hat das Recht auf Aufmerksamkeit und Zuwendung der Lehrperson.“ [4] Das sei in der Fülle der Alltagsaufgaben nicht mehr gewährleistet.
Und die Folgen? „[…] in der Berufsschule kriegen wir mehr und mehr Lernende, bei denen wir uns als Lehrpersonen fragen, was sie neun Jahre lang gemacht haben. Prozentrechnung weit weg, Dreisätze oder ihnen adäquate mathematische Formeln noch weiter weg, Deutsch total weit weg. Aber auch Französisch mit totaler Demotivation und in Englisch kein Wort schriftlich richtig.“
Soweit das Urteil eines passionierten Berufsschullehrers; er arbeitete viele Jahre in der Privatwirtschaft und kennt ihre Ansprüche. Es ist ein Einzelvotum, das sei zugegeben. Doch diese Stimme zeigt sich in unserer Bildungslandschaft multipliziert. Klagen von Lehrmeistern, von Berufsverbänden und Hochschulrektoren bestätigen sie. Alle verweisen auf bestimmte Defizite, die sich auf viele Jugendliche nachteilig auswirken.
Ein Ding richtig können
Es gibt keine Heilslehre des Lehrens und Lernens, aber es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse. Was die Schule „durchnimmt“, sollte sie gründlich durchnehmen, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Das fordert jeder Kognitions- und Lernpsychologe. Ein Ding richtig können ist mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss sagte, galt schon früher und gilt noch heute: Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau, gerade auch für lernschwächere Kinder. „Non multa, sed multum!“, hiess es bei Plinius in Roms guten Schulen. Darauf haben die Zürcher Lehrer mit ihrer Spracheninitiative hinweisen wollen. Nun diffamiert sie die NZZ mit dem Stigma der Verlierer.
Vieles geschieht – weniges wirkt: Gute Lehrerinnen, pflichtbewusste Lehrer wissen dies. Sie benötigen Zeit zum Festigen und Automatisieren. Sie verlangen von ihren Kindern darum das, was der Kognitionsforscher Howard Gardner als eine der Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und kreatives Arbeiten und Denken. Das geht nicht ohne Zeit und Freiraum. Die braucht es; denn in der Schule darf es keine Verlierer geben, nicht auf Lehrerseite, nicht auf Schülerseite.
[1] Walter Bernet, die Lehrer als politische Verlierer, in: NZZ, 23.05.17.
[2] Andreas Helmke (2016), Ohne […] klare Strukturen und Lehrersteuerung geht’s nicht. Unpubl. Msc.; ders. (2015), Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. 6. Auflage. Seelze-Velber: Friedrich Verlag GmbH, S. 205ff.
[3] Najda Pastega, Das Leiden der Lehrer, in: Sonntagszeitung 26. 03. 2017, S. 2f.
[4] Naomi Jones, Lehrer wollen nicht mehr alleine unterrichten, in: Der Bund, 16. März 2017; Marius Aschwanden, Über 800 Berner Lehrer fordern Unterricht im Team, in: Berner Zeitung, 18. 03.2017