Das Filmfestival von Locarno, das ab sofort unter dem Markennamen „Locarno Festival“ firmiert, feiert heuer seinen siebzigsten Geburtstag. Das sind siebzig Jahre Erfahrung in der Präsentation von Filmen und im Umgang mit dem Publikum. Doch auch im Jubiläumsjahr vermisst man in manchen Dingen Mut und Souveränität.
Unbewältigter Publikumsandrang
Die seinerzeitige Schaffung eines Generalabos, das zum Besuch sämtlicher öffentlicher Vorführungen berechtigt, war eine blendende Idee. Nur wird die Möglichkeit, dieses Film-GA dann auch zu nutzen, durch den gewaltigen Andrang der Zuschauerscharen stark eingeschränkt. Mit seinen steigenden Besucherzahlen droht das Festival heute aus allen Nähten zu platzen.
Wenn man dreimal am Tag auch bei frühzeitigem Erscheinen vor einem ausverkauften Saal steht, dann stimmt etwas nicht mit dem Veranstaltungskonzept. Und wenn man erst nach zwanzig Minuten Anstehen erfährt, dass der Saal schon vor fünfzehn Minuten voll war und Leute nur noch handverlesen eingelassen werden, dann läuft etwas falsch mit der Organisation.
Also haben wir den nächstmöglichen Film einmal mehr verpasst, setzen uns ans Ufer des Lago Maggiore, blinzeln in die Sonne und denken ein bisschen nach über dieses Locarno Festival. Was will es denn sein? Ein Treffen der Filmbranche? Ein Schaufenster des aktuellen Filmschaffens? Ein kulturpolitisches Ereignis? Ein Volksfest? Oder alles zugleich?
Beispiel „Kongo Tribunal“
Die unentschiedene Programmierung weckt den Verdacht, das Festival wisse selber nicht so recht, was es sein möchte. So muss sich Milo Rau für die Premiere seines „Kongo Tribunals“, voraussehbar eine der wesentlichen Premieren der Saison, mit dem knappen Platzangebot im Teatro Kursaal begnügen. Dort läuft dann prompt das seit Tagen vertraute Ritual ab: Der Moderator bittet das Publikum im Saal, allfällige noch freie Sitzplätze durch ein Handzeichen zu orten. Schau an: Es sind noch sieben Plätze frei. Also werden noch sieben Glückliche eingelassen – und gegen hundert Unglückliche bleiben draussen stehen.
Dass „Das Kongo Tribunal“ nicht auf Anhieb den grössten Saal bekommt, sondern lediglich einen zweiten Aufführungstermin, ist schwer nachvollziehbar. Wozu beschäftigt ein Festival Jurymitglieder, Filmfachleute und Branchenkenner sonder Zahl, wenn die sichtlich nicht zu ahnen vermögen, dass dieses Kongo-Stück cineastisch, dramaturgisch und politisch etwas Ungewohntes und Neues darstellt? Dass da ein Knüller wartet, der für Aufsehen und Diskussionen sorgen wird?
Schlecht genutzte Piazza Grande
Warum, mit Verlaub, ging man mit dem „Kongo Tribunal“ nicht auf die Piazza Grande? Auch „Willkommen in der Schweiz“ von Sabine Gisiger, dieses aktuelle Lehrstück in praktizierter Demokratie, hätte sich da gut gemacht. Ebenso „Wajib“ von Annemarie Jacir, eine berührende Vater-Sohn-Geschichte mit politischem Hintergrund. Und auch dem skurrilen Glanzstück „Lucky“ von John Carroll Lynch über das Leben eines 90-Jährigen wäre der Erfolg auf der grossen Leidwand garantiert gewesen.
Was wird dem Publikum auf der Piazza Grande, diesem weltweit einmaligen Kino-Forum inmitten von Locarno, stattdessen zugemutet? Zum Beispiel ein geradezu transparent dünnes Drama mit dem Titel „Lola Pater“ von Nadir Moknèche. Zum Beispiel, noch schlimmer, „Drei Zinnen“, eine holprig konstruierte, unglaubwürdige Familiengeschichte von Jan Zabeil. Und als drittes Beispiel das Schauerstück „Chien“ von Samuel Benchetrit, in dem sich ein Mann zum Hund degradiert, worauf ein schöner Teil des Publikums die Piazza vorzeitig verlässt, freundlicherweise ohne Bellen.
Unzureichende Positionierung
Was will man in Locarno? Gesellschaftspolitische Relevanz? Oder nur beliebige bis unbedarfte Unterhaltung? Die einmalige Gelegenheit, das Locarno Festival nicht nur mit einem neuen Namen und einem stattlichen neuen Kinopalast aufzuwerten, sondern auch mit sozialem Engagement und einer weltanschaulichen Haltung klarer zu positionieren – das hat man im Jubiläumsjahr spektakulär vertan.
Für Festival-Präsident Marco Solari ist Locarno laut seinem Geleitwort im Katalog schon heute „too big to fail“. Seine Sprache verrät, dass er dabei vordringlich an Kommerz denkt und nicht an Kultur.
Uns imponiert indes schon immer die stupende Freundlichkeit, ja Herzlichkeit, mit der man in Locarno trotz Festival-Stress überall empfangen wird. Mit der gleichen Freundlichkeit applaudiert das Publikum grundsätzlich allen Filmschaffenden, selbst wenn man im Saal – wie bei der Präsentation des zwiespältigen Dokumentarfilms „Sand und Blut“ von Matthias Krepp und Angelika Spangel – wegen einer falsch eingestellten Lautsprecheranlage nicht versteht, was auf dem Podium gesprochen wird.
Die Tessiner Herzlichkeit. Auch das ist ein Markenzeichen des Locarno Festivals – kein neues, sondern ein längst vertrautes. Also gehen wir zurück zum Fevi und schauen, ob bei der nächsten Projektion noch ein Platz zu ergattern ist.