Hans-Ulrich Schlumpf bewegte den neuen Schweizer Film künstlerisch und politisch von den rebellischen Experimenten über die sozialkritischen Mutproben ins Zentrum des kulturellen Lebens mit internationaler Ausstrahlung. Stellvertretend für diesen starken Beitrag zum Qualitäts- und Bedeutungsgewinn unseres Filmschaffens seien "Armand Schulthess - J'ai le téléphone", "Der Kongress der Pinguine", "Kleine Freiheit", "TransAtlantique" und "Ultima Thule" genannt. Am 7. Dezember feiert Hans-Ulrich Schlumpf, inzwischen auch Autor von Journal 21 geworden, seinen 75. Geburtstag.
Skeptiker und Mahner
Im Rückblick zeigt sich Schlumpfs erster Film, der 22 Minuten lange "Fortschritt - Nach uns die Wüste" aus dem Jahr 1966, als programmatische Ankündigung der in den folgenden 19 Filmen beleuchteten Thematik, nämlich die im weitesten Sinne verstandene Zerstörung der Umwelt samt Vernichtung unserer geistigen und kulturellen Grundlagen. Auch der im Erstling eingenommenen Haltung blieb Schlumpf treu: Als Mahner, der seinen Zorn mit klugen Argumenten steuert, als Skeptiker, der an die Möglichkeit der Wende zum Besseren glaubt und diesen Standpunkt beharrlich vertritt.
Film um Film arbeitet Schlumpf an seinem grossen Film über die condition humaine. Martin Schaub ahnte dieses Engagement bereits 1978 voraus und bekam recht. Mit wechselnder Optik, teils dokumentierend, teils fiktional, interessierte sich Schlumpf für Menschen, die am gesellschaftlichen Rand den zentrifugalen Zeitkräften trotzen oder ihnen ausgeliefert sind. Nie geht es konfrontativ um die Mächtigen, sondern stets sensibel um die von der Macht Getroffenen.
Die Filme sind intellektuell konzipiert, aber keine Thesen in der Form laufender Bilder. Dafür kennt Schlumpf sein Medium zu gut. Er besitzt filmische Augen und beherrscht neben der Wortsprache die Bildsprache.
Die Welt begreifen
Weil er souverän in die Lage ist, auch in Zürich als seinem Wohn- und Arbeitsort und mit geringem finanziellen Aufwand sehenswerte Filme zu realisieren, erwarb er den Anspruch auf Drehplätze in fernsten Regionen und auf stattliche Budgets. Was er vom äussersten Nordwesten Kanadas, aus Südamerika und der Antarktis zurückbrachte, "Die Schwalben des Goldrausches" etwa, "Die Welt der Sofia Velasquez" oder "Der Kongress der Pinguine", gehört zum bleibenden Reichtum des neuen Schweizer Films.
Schlumpf ist ein leidenschaftlich Reisender. Auch prägnante Fotoreportagen legen davon Zeugnis ab. Die Reisen gelten der Suche nach der Begreifbarkeit der Welt und nach der Gewissheit darüber, wo sich das Gebaren in der Welt jeder Begreifbarkeit entzieht und zur faktengesicherten und beherzten Warnung verpflichtet.
Nicht nur die geografischen, sondern auch die Grenzen des Unvorstellbaren üben auf Schlumpf eine Faszination aus. Sie wird erlebbar im kühnen Spielfilm "Ultima Thule" über das Geheimnis des Nahtodes.
Kulturhistorisches Dokument
Im Werk Schlumpfs sticht der 1974 entstandene "Armand Schulthess - J'ai le téléphone" als einzigartig heraus. Zunächst ist der Dokumentarfilm eine so respektvolle wie behutsame Annäherung an den Sonderling Armand Schulthess und sein enzyklopädisch-philosophisches Gartenuniversum im Onsernone-Tal. Weil unfassbar verständnislose Erben das überwältigende Reich zerstörten, wurde die filmische Dokumentation selber zum kulturhistorischen Dokument.
Schulthess blieb für Schlumpf eine Passion. Mit Liebe, wissenschaftlicher Genauigkeit und gestalterischem Können richtete er Haus und Garten in Buchform auf über vierhundert Seiten wieder ein. Die 2011 erschienene und in die Reihe der "Schönsten Schweizer Bücher" aufgenommene "Rekonstruktion eines Universums" ist mit ihren Fotos, Texten und Plänen eine Entdeckungsreise zu fernsten Grenzen und darüber hinaus.
Verantwortung tragen
Schlumpf drehte notwendige Filme: aus tiefer Überzeugung und vom Vorbild Alain Tanner beeinflusste Autorenfilme. Selbstbestimmt waren die Themen und die kreative Auseinandersetzung mit ihnen. Die Kompromisslosigkeit wurde zur Botschaft, Haltung zu beweisen, Widerstand zu leisten, Verantwortung zu tragen. Ohne Gegenwelten gerät die rasende Welt ausser Rand und Band.
Wir überhören Hans-Ulrich Schlumpf wenn er sagt, in seinem Alter seien grosse Projekte zunehmend schwieriger geworden, und warten ungeduldig auf den nächsten notwendigen Film.