Es war eine sonderbare Diskussion im Nationalrat während der Herbstsession. Die Gegner der Alpenkonvention, die Mehrheit der Bürgerlichen mit Ausnahme mehrerer Nationalräte aus den Bergkantonen, zeichneten den Teufel an die Wand: Mit den drei zur Diskussion stehenden Durchführungsprotokollen zur Alpenkonvention – Verkehr, Bodenschutz sowie Raumplanung und nachhaltige Entwicklung“ – werde die wirtschaftliche Entwicklung im Alpenraum behindert, der Schutz der Natur einseitig verordnet und die Souveränität der Bergkantone sowie der Schweiz eingeschränkt.
Gegen diese vorgefasste Meinung war kein Kraut gewachsen. Die Argumente linker, grüner, aber auch bürgerlicher Nationalräte, welche die Protokolle im Interesse der Bevölkerung im Alpenraum unterstützten, zeitigten keine Wirkung. Ebenso vergeblich unterstützte Bundesrat Moritz Leuenberger die Protokolle, und das Ja der Bergkantone und der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für das Berggebiet wurde von der Mehrheit der Volkskammer ignoriert wie jenes der Internationalen Alpenschutzkommission Cipra. Mit 102 gegen 76 Stimmen lehnte der Nationalrat die Durchführungsprotokolle zum zweiten Mal ab, d.h. er trat auf den Antrag des Bundesrates nicht ein und weigerte sich sogar, über die Protokoll auch nur zu diskutieren. Zwar hatte der Ständerat die drei Protokolle genehmigt, da jedoch die Zustimmung beider Kammern notwenig ist, sind sie für einige Jahre vom Tisch.
Nicht einfach für Doris Leuthard
Im Frühling 2011 wird die Schweiz als Mitglied der Alpenkonvention für zwei Jahre turnusgemäss den Vorsitz zu übernehmen haben. Für die neue Verkehrs- und Umweltministerin Doris Leuthard wird es nicht einfach sein, den Ministern der andern Mitgliedsstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Liechtenstein, Österreich, Monaco, Slowenien und der Europäischen Union) das Nein zu den Protokollen zu erklären. Die Schweiz hat gleich mehrere Gelegenheiten verpasst, nur weil der Nationalrat die Durchführungsprotokolle zu einem gefährlichen Machwerk verzerrt hatte. Die Schweiz, das Alpenland par excellence, ist in der Berggebietspolitik den andern Alpenländern Vorbild, und diese hätten unserem Land gerne eine Führungsrolle anvertraut. Die Schweiz als nicht EU-Mitglied könnte mit ihren Nachbarn im Alpengebiet zusammenarbeiten und deren Alpenpolitik und jene der EU prägen. Das Verkehrsprotokoll hat z.B. die schweizerische Verkehrspolitik übernommen, die somit nicht nur von den Alpenländern, sondern auch von der EU anerkannt wird.
Zuerst stellten sich die Gebirgskantone quer
Die Leidensgeschichte der Alpenkonvention ist ein Paradebeispiel dafür, wie schwierig es ist, gegen vorgefasste Meinungen etwas auszurichten. Die Alpenkonvention verlangt, im Alpenraum sei eine ausgeglichene Entwicklung von Gesellschaft, Wirtschaft und Natur zu erreichen; 1991 unterzeichneten die Alpenländer, darunter die Schweiz sowie die EU, das Vertragswerk, das lediglich allgemeine Grundsätze festlegt. Alsbald setzten sich die Gebirgskantone zur Wehr, denn sie befürchteten, die Alpenkonvention stelle den Schutzgedanken von Natur und Umwelt derart in den Vordergrund, dass die Wirtschaft, namentlich der Tourismus, zum Schaden der Bevölkerung, gelähmt würde. Weiter beklagten sie, die Alpenkonvention beschränke ihren Handlungsspielraum und ihre Souveränität. Was sie nicht beachteten: Den Bundesbehörden war es gelungen, in der Alpenkonvention die wirtschaftliche Entfaltung zu stärken und die regionalen Behörden für deren Umsetzung einzubeziehen.
Die damalige Umweltministerin Ruth Dreifuss gab sich trotz der harten Kritik nicht geschlagen, und sie suchte das Gespräch mit den Gebirgskantonen. Im August 1996 fand in Arosa eine sorgfältig vorbereitete Klausurtagung statt. Die Erläuterungen und die Argumente von Bundesrätin Dreifuss, ihrer Mitarbeiter und der Experten waren derart überzeugend, dass sich die Gebirgskantone vor Abschluss des „Alpengipfels“ mit der Ratifizierung der Alpenkonvention einverstanden erklärten. Darauf wurde in enger Zusammenarbeit mit Dreifuss’ neuen Verbündeten der Antrag ans Parlament ausgearbeitet, welches das Vertragswerk im Jahr 1999 ratifizierte. Schon damals war die Konkretisierung der Alpenkonvention mittels Durchführungsprotokollen abgeschlossen, doch was Parlament wollte sich noch nicht damit befassen.
Econmiesuisse winkt, Nationalrat spurt
Im Juni 2001 fand in Glarus eine weitere Konferenz zwischen dem Bund und den Gebirgskantonen statt. Nach eingehender Prüfung der Durchführungsprotokolle stimmte man überein, dass diese den Handlungsspielraum der Schweiz wie der Kantone in keiner Weise einschränkten und deren Ratifizierung zu befürworten sei. Die neun Protokolle betreffen die folgenden Bereiche: Berglandwirtschaft, Bergwald, Bodenschutz, Energie, Naturschutz und Landschaftspflege, Raumplanung und nachhaltige Entwicklung, Tourismus, Verkehr sowie ein Abkommen zur Streitbeilegung. Noch bevor Ende 2001 der Bundesrat das Parlament eingeladen hatte, die Durchführungsprotokolle zu genehmigen, veröffentlichte Econmiesuisse im August ein Dokument gegen dieses Vorhaben. Darin beklagte der mächtige Dachverband der Wirtschaft, sein Nein zu allen Protokollen sei vom Bundesrat kaum berücksichtigt worden, und er fuhr fort: „Die Wirtschaft ruft die eidgenössischen Räte daher auf, die Ratifizierung der Protokolle abzulehnen, da diese für die wirtschaftliche Entwicklung der schweizerischen Volkswirtschaft mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden wären.“
Dieser Wink mit dem Zaunpfahl hat offensichtlich gewirkt. Der Ständerat entschied sich, nach nochmaligen Prüfung, bloss drei Protokolle zu ratifizieren. Nach langem Hin und Her in der Kommission wollte der Nationalrat von den Durchführungsprotokollen jedoch nichts wissen. Der Ständerat bekräftigte aber seinen früheren Entscheid, und so kehrte das Geschäft in der Herbstsession zurück in den Nationalrat. Es entfaltete sich eine lange Debatte. Was Juristen, Experten, Vertreter des Bundes und der Kantone mehrmals bestätigt hatten, die Protokolle seien von der schweizerischen Berggebietspolitik geprägt und würden die Wirtschaft keineswegs lähmen, machte den bürgerlichen Nationalräten keinen Eindruck. Mit blinder Konsequenz hielten sie an ihrem Glauben fest, die Protokolle seien für unser Land schädlich. Wie kann man einem Parlament vertrauen, wenn die Mehrheit seiner Mitglieder die Wirklichkeit nicht wahrnehmen will und sich als resistent gegen gute Argumente erweist?