Ein eisig kalter Wind fegt über den Platz vor dem Gebäude der Berliner Philharmonie. Es ist dunkel, Autos brausen im Hintergrund durch – und die Warteschlange vor der Eingangstür wird immer länger. Also: Kragen hochschlagen, die Mütze noch tiefer ins Gesicht ziehen, oder tanzen, beziehungsweise hüpfen, wie es vier junge Leute mit viel Elan tun. Klar, wird es mit dem Handy gefilmt. Klar, werden die Wartenden zu kräftigem Klatschen aufgefordert. Und klar: Wir applaudieren. Immerhin ist dies eine willkommene Abwechslung. Warum die Türen nicht früher aufgehen, versteht ohnehin niemand.
Begeisterte Kritiker
Und plötzlich – man glaubt es kaum – singt eine Amsel in der dunklen Winternacht. Völlig zur falschen Jahreszeit, aber betörend schön und zart, als wolle sie uns einstimmen. Die Spannung steigt jedenfalls. Sicher beim schlangestehenden Publikum gleichermassen, wie beim Dirigenten und beim Orchester. Auf dem Programm stand Giuseppe Verdis «Requiem». Die beiden Konzerte in der Berliner Philharmonie waren seit Wochen restlos ausverkauft.
Nur wenige Tage zuvor hatte Currentzis das New Yorker Publikum im Sturm erobert. Es war sein Amerika-Début. Auch dort mit Verdis «Requiem», allerdings mit seinem eigenen Orchester, musicAeterna, das er zunächst in Nowosibirsk gegründet, dann ins sibirische Perm mitgenommen hat und das auf den kleinsten Wink reagiert und den Currentzis-Stil sowieso intus hat. New Yorks Kritiker überschlugen sich vor Begeisterung.
Der Name ist Versprechen
Nun also Berlin, und diesmal mit den Philharmonikern. Den Chor, musicAeterna, hat er allerdings selbst mitgebracht, wohlwissend, dass es zurzeit kaum einen besseren gibt als eben seinen eigenen. Von Anfang an zieht Teodor Currentzis das Publikum in seinen Bann. Die meisten Besucher ahnen und hoffen es wohl auch, dass dies ein «Requiem» wird, wie sie es noch nie gehört haben. Der Name «Currentzis» ist Versprechen genug: Er ist Verführer und Extremist zugleich, er ist der Paradiesvogel unter den Dirigenten, der Grieche, der in Russland für Aufsehen sorgte und sich inzwischen an die europäische Klassik-Spitze dirigiert hat.
Dunkel, und wie aus dem Nichts, erklingen kaum hörbar die ersten Töne. Ebenso der Chor, der in die leisen Klänge der Streicher hineinhaucht. Kurz darauf das pure Gegenteil: mit voller Kraft dröhnt Gottes Zorn durch den «dies irae». Verschont wird niemand. Auch das Publikum wird von dieser höllischen Klangwolke überrollt. Es gibt kein Entrinnen. Als sich der Sturm gelegt hat, kommen auch die Gesangssolisten zur Geltung. Allen voran Zarina Abaeva, eine Sopranistin mit wunderschöner Stimme in den Höhen wie in der Tiefe. Sie gehört zum eingefleischten Currentzis-Stamm-Ensemble. Schon in Perm stand sie in den verschiedensten Rollen auf der Bühne und begleitete Currentzis auf verschiedenen Auslands-Tourneen. Die zweite Frauenstimme gehört der Italienerin Annalisa Stroppa, die kurzfristig für eine erkrankte Kollegin eingesprungen ist und vermutlich mit gehörigem Lampenfieber auf der Bühne steht. Aber auch sie meistert das Requiem souverän und mit eindringlicher Dirigier-Unterstützung durch Currentzis. Aus Russland mitgebracht hat Currentzis zwei jungen Sänger, den Tenor Sergej Romanowsky und den Bariton Evgeny Stavinsky, die beide zum ersten Mal mit den Berliner Philharmonikern auftreten.
Verdi hatte das Requiem zum Tod des Komponisten Gioacchino Rossini geschrieben, wegen verschiedener Querelen wurde die Totenmesse jedoch mit etlicher Verspätung uraufgeführt. Es brauchte sozusagen erst noch den Tod des Schriftstellers Allessandro Manzoni, dass Verdi die Noten des Requiems noch einmal hervornahm und die Komposition schliesslich beendete. Er selbst war es dann auch, der das «Requiem» 1874 in der Mailänder Kirche San Marco zur Uraufführung brachte.
Von einem Extrem ins andere
Während rund 85 Minuten führt Currentzis Musiker, Sänger und Publikum von einem Extrem ins andere, von Laut zu Leise, von Schnell zu Langsam und dies mit ungeheurer Leidenschaft. Und am Schluss: ohrenbetäubende Stille, in der sogar die Zeit stillzustehen scheint. Niemand bewegt sich, niemand hustet, niemand flüstert auch nur etwas … bis Currentzis langsam die Arme senkt. Schliesslich – wie eine Erlösung – tosender Applaus.
Dann steht man wieder draussen in der kalten Nacht, im Wind, immer noch eingehüllt in diese Klangwucht, und völlig fasziniert von Verdis «Requiem». Und das ist wohl eine der spannendsten Gaben dieses Dirigenten, Vertrautes gründlich zu entstauben und immer wieder so aufzuführen, als höre man es zum ersten Mal.
Zum ersten Mal war es diesmal tatsächlich mit den Philharmonikern, die das Requiem natürlich schon mit den verschiedensten Star-Dirigenten gespielt haben. Vielleicht war auch der eine oder andere gestandene Philharmoniker zunächst etwas skeptisch gegenüber Currentzis, der die Klassikwelt so gründlich aufrüttelt. Wer weiss. Bei den Philharmonikern äusserst man sich jedenfalls grundsätzlich nicht über einen Dirigenten, mit dem man das erste Mal zusammengespielt hat.
Und als Zuhörerin? Da denkt man im Innersten an die «Requiem»-Aufführungen, in denen man Currentzis schon mit seinem eigenen Orchester, mit musicAeterna erlebt hat … denn da war etwas dabei, etwas Unerklärliches, ein Funke, der das Feuer noch ein bisschen mehr zum Lodern gebracht hat.
(Und übrigens: Zur Feier des Tages oder vielleicht aus Respekt vor den Berliner Philharmonikern hat Teodor Currentzis auf die Schnürstiefel mit den legendären roten Schuhbändeln verzichtet und trug Lackschuhe.)