Die Amerikaner werden im Nahen Osten zwar immer noch gefürchtet, aber nicht mehr respektiert. Ihr hilfloses Agieren angesichts des Gazakriegs deckt gnadenlos die mangelnde Konsistenz und Durchsetzungskraft auf, welche die US-Politik seit George W. Bush kennzeichnen.
Joe Biden und Aussenminister Blinken ermahnen Israels Premier Netanjahu fast täglich, er müsse dafür sorgen, ein weiteres Ansteigen der Opferzahlen in der Zivilbevölkerung des schon schwerwiegend zerstörten Gazastreifens zu verhindern. Was Netanjahu ebenso regelmässig und kühl kontert mit dem Argument, Hamas müsse zerstört werden, es gäbe keine Alternative zu genau der Art von Krieg, welche die israelische Armee nun führe. Man warne ja die Menschen im Gazastreifen immer wieder vor Bombardementen und Angriffen durch Bodentruppen, man weise sie an, wo es für sie noch sicher sei (was sicher ist oder nicht, darüber gibt es divergierende Meinungen – alle humanitären Organisationen sagen aufgrund von Erfahrungen vor Ort, es sei nirgendwo auch nur halbwegs sicher), also: Die israelische Armee tue ihr Möglichstes, um Opfer unter der Bevölkerung zu vermeiden.
Aber in acht Wochen Krieg sind mehr als 16’000 Menschen getötet und mindestens 30’000 verletzt worden. Und wer verletzt wurde, kann nicht damit rechnen, in einem Spital behandelt zu werden, denn die Krankenhäuser erhalten kaum noch Medikamente. Etwa die Hälfte der Behausungen im übervölkerten Küstenstreifen ist ausserdem schwer beschädigt oder zerstört worden.
Verunsicherte amerikanische Öffentlichkeit
In der US-amerikanischen Öffentlichkeit sorgt die Tragödie im fernen Nahen Osten für Verunsicherung. Glaubt man einer Umfrage des Instituts «Data for Progress», dann wünschen sich 61 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner einen permanenten Waffenstillstand und eine Deeskalation im Krieg, aber nur elf Prozent der Abgeordneten der beiden Kammern des Kongresses in Washington befürworten das. Gibt es also einen gravierenden Graben zwischen dem, was eine Mehrheit will, und dem, was die politisch Verantwortlichen sich wünschen?
Ja, den gibt es. Im politischen Washington hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Amerika in der ganzen Region des Nahen und den Mittleren Ostens schwerwiegend an Einfluss verloren hat. Noch nie zuvor wurde das allerdings so offenkundig wie jetzt. Die Regierung Israels, des engsten Verbündeten in der Region, ignoriert die Appelle des US-Präsidenten, zählt aber darauf, dass Washington weiterhin Waffen liefert (panzerbrechende Geschosse wurden ja eben bewilligt) und keine Abstriche bei der längst zur Tradition gewordenen finanziellen Hilfe (jährlich etwa 3,4 Milliarden Dollar) machen wird.
Aber nicht nur Israel, auch Jordanien und Ägypten erwarten weiterhin Geld aus den USA (beide erhielten in den letzten Jahren je um die 1,3 bis 1,4 Milliarden), was den jordanischen König im Oktober allerdings nicht daran hinderte, den Präsidenten der USA durch die Annullation eines Zweiergesprächs in Amman auf bisher beispiellose Weise zu brüskieren.
Die Saudis anderseits profilierten sich schon vor dem Krieg im Gazastreifen, indem sie eine Bitte der USA, die Förderung von Erdöl zu erhöhen, schlicht ignorierten. Als sie sich entschlossen, die schwer belasteten Beziehungen zu Iran zu entschärfen, schalteten sie nicht die USA für die Vermittlung ein, sondern China. Und die Türkei, eine weitere Grossregionalmacht, stösst die USA vor den Kopf, indem sie unter anderem nun schon fast ein Jahr lang den schwedischen Beitritt zur Nato blockiert.
Verlust an Macht und Einfluss
All das zeigt: Die Vereinigten Staaten erleiden in der ganzen Region einen gewaltigen Verlust an Macht und an Einfluss. Sie werden zwar noch gefürchtet, aber sie werden je länger desto weniger respektiert. Vieles, was die USA in den letzten Jahren bewirkt haben, wird jetzt von der nahöstlichen Öffentlichkeit kritisch beurteilt – vor allem jene Vereinbarungen, die unter dem Schlagwort «Abraham Accords» zur Normalisierung der Beziehungen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko (und einer erst halbwegs geglückten Annäherung an Sudan) geführt haben.
Heute, im Blick auf den Schrecken des Gaza-Kriegs, erscheint das, blättert man die Medien der arabischen Länder durch, als Augenwischerei. Auch Saudi-Arabien, das unter dem Autokraten Mohammed bin Salman (MbS) schon fast so weit war, einen Botschafter nach Tel Aviv zu entsenden, bleibt jetzt nicht nur auf Distanz, sondern verurteilt Israel wegen des Kriegs im Gaza-Streifen scharf und solidarisiert sich mit «den Palästinensern». Wen MbS damit genau meint, bleibt allerdings schwammig – um Hamas kann es dabei ja nicht gehen, denn die Ideologie von Hamas ist ja genau das, was MbS in seinem eigenen Reich seit jeher systematisch bekämpft hat, eine Organisation nämlich, die sich dem politischen Islam verschrieben hat, also der Ideologie der Muslimbrüder, der Feinde der saudischen Monarchie.
Konzeptloses Agieren in der Krisenregion
Die US-Führung agiert derzeit in der Krisenregion kopf- und konzeptlos: totale Loyalität mit Israel einerseits, Solidarität mit den palästinensischen Opfern des Kriegs im Gazastreifen anderseits. Alles sehr wortreich. Aber weshalb kann Präsident Joe Biden denn kein Machtwort zugunsten eines Waffenstillstands sprechen, wird in den Medien der arabischen Welt gefragt.
Die Antwort ist ebenso einfach wie komplex: Weil die USA ihre Rolle als Ordnungsmacht verloren haben. Es begann mit dem von Präsident George W. Bush entfachten Krieg gegen Irak 2003 und dessen Folgen: Chaos im Irak, Aufstieg der Terrororganisation Islamischer Staat, widersprüchliche Strategie der USA während des Konflikts in Syrien, zwanzigjähriger Krieg in Afghanistan und chaotischer Auszug der US-Truppen aus Kabul im Sommer 2021.
Ferner: unklare Politik gegenüber Saudiarabien. Hat Washington nun der Monarchie grünes Licht gegeben im Konflikt mit den Huthi-Truppen in Jemen oder nicht? Hält US-Präsident Biden den saudischen De-facto-Herrscher, MbS, für einen Kriminellen (wegen der Ermordung des Publizisten Kashoggi) oder nicht? Befindet Washington, al-Sissi in Ägypten sei ein respektabler Staatspräsident? Oder soll man ihn wegen gravierender Verstösse gegen die Menschenrechte an den Pranger stellen? Und, da kommen wir zurück zum aktuellen Thema: Soll Amerika die Politik des israelischen Premiers vorbehaltlos unterstützen, also auch dessen Ziele einer faktischen Annexion des palästinensischen Gebiets bis zum Jordan? – Oder ist Präsident Biden entschlossen, Netanjahu Grenzen zu setzen?
Alles offen, alles unklar. Und es wird auch unklar bleiben, vor allem weil in den USA demnächst der Wahlkampf beginnt und Joe Biden sich weder bei der pro-israelischen Bevölkerungsgruppe noch bei der Gegenseite unbeliebt machen will. Er braucht beide Segmente, um die Chancen der Wiederwahl zu wahren. Deshalb entsendet er zwar zwei Flugzeugträger ins östliche Mittelmeer und stösst Warnungen gegen Iran, gegen Syrien, gegen alle echten oder potentiellen Sympathisanten von Hamas aus, aber er wird sich wohl davor hüten, die USA in einen bewaffneten Konflikt im «Orient» zu verwickeln. Er, der nach Trump als Friedenspräsident sein Amt antrat, kann ja wohl nicht als Kriegspräsident die schwierige Wahlkampagne antreten.
Deshalb wird er wohl die Flugzeugträger noch für längere Zeit fast in Sichtweite der Ostküste des Mittelmeers stationiert lassen und von Zeit zu Zeit Drohungen ausstossen. Aber den Worten werden kaum Taten folgen. Und er wird weiterhin den israelischen Premier seiner Loyalität versichern. Und wird ebenso regelmässig erklären, wie sehr ihm das Leid der Menschen im Gazastreifen das Herz bricht.