Das Europäische Parlament hat am frühen Donnerstagnachmittag Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin wiedergewählt. Das Bild zeigt von der Leyen nach Bekanntgabe der Wahl mit der maltesischen EU-Ratspräsidentin Roberta Metsola. 401 der 720 EU-Abgeordneten stimmen für von der Leyen, 284 gegen sie. Um gewählt zu werden, brauchte sie mindestens 361 Stimmen.
Kurz vor der Wahl im Europäischen Parlament hatte die deutsche Spitzenpolitikerin ihre Pläne für die kommenden fünf Jahre öffentlich gemacht und in einer Rede vor den Abgeordneten erklärt.
Die 401 Stimmen, die von der Leyen jetzt erhielt, entsprechen 56 Prozent der möglichen 720 Stimmen. Vor fünf Jahren, bei ihrer ersten Wahl, erhielt sie 51 Prozent der möglichen Stimmen.
Mit der Wahl von der Leyens ist das höchste Führungsquartett der EU für die nächsten fünf Jahre bestellt. Schon zuvor war die Estin Kaja Kallas als EU-«Aussenministerin», der Portugiese António Costa als EU-Ratspräsident und die Maltesin Roberta Metsola als EU-Parlamentspräsidentin gewählt worden.
Eine «wahre europäische Verteidigungsunion»
In ihrer Rede vor der Wahl erklärte die Kommissionspräsidentin, sie wolle die Verteidigung der EU stärken und ein neues Verteidigungsprojekt anschieben. «Wir werden eine Reihe von Verteidigungsprojekten von gemeinsamem europäischem Interesse vorschlagen, beginnend mit einem europäischen Luftschutzschild und Cyberabwehr», erklärte sie. Ziel sei der Aufbau einer «wahren europäischen Verteidigungsunion». In einer «Zeit grosser Angst und Unsicherheit» brauche es ein «starkes Europa». «Ich werde niemals akzeptieren, dass Demagogen und Extremisten unsere europäische Lebensart zerstören.»
Wie schon in den letzten Tagen übte von der Leyen scharfe Kritik am ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seiner sogenannten «Friedensmission» nach Moskau, Peking und zu Donald Trump. «Diese sogenannte Friedensmission war nichts anderes als eine Appeasement-Mission», sagte sie. Damit nimmt sie Bezug auf die britische Politik unter Neville Chamberlain im Jahr 1938. Chamberlain versuchte damals, Hitler von weiteren Eroberungen abzuhalten, indem er ihm das geforderte Sudetenland zusprach.
Migration, Grenzschutz
Von der Leyen will die Zahl der Beschäftigten der europäischen Grenz- und Küstenwache (Frontex) auf 30’000 verdreifachen. Die Zusammenarbeit mit Herkunftsländern der Migranten soll vertieft werden. Mit Ländern des südlichen Mittelmeers sollen zusätzliche Abkommen geschlossen werden, damit Migranten nicht in die EU gelangen.
«Clean Industrial Deal»
In der Klimapolitik will von der Leyen neue Wege gehen. Sie werde in den ersten hundert Tagen der neuen Legislatur eine Strategie für eine saubere Industrie in Europa vorlegen. Der Klimaschutz und eine florierende Wirtschaft dürften sich nicht im Wege stehen.
Die EU hatte früher beschlossen, dass ab 2035 nur noch neue Autos ohne Verbrennermotoren zugelassen sind. Von der Leyen sprach sich jetzt für Ausnahmen für E-Fuels aus. Um die EU-Klimaziele zu erreichen, sei ein technologieneutraler Ansatz erforderlich, bei dem die synthetischen Kraftstoffe eine Rolle spielten.
Die deutschen Grünen, die lange Zeit zögerten, haben jetzt mehrheitlich aus «politischer Verantwortung» für von der Leyen gestimmt.
Die Fratelli stimmten gegen von der Leyen
Italien, die drittgrösste Volkswirtschaft der EU, kaut noch immer daran, dass sich im Führungsquartett der EU kein Italiener oder keine Italienerin befindet. Von der Leyen hatte in den letzten Monaten mehrmals Italien und vor allem Ministerpräsidentin Giorgia Meloni besucht, um ihre Stimmen zu gewinnen. Offenbar vergebens. Die Fratelli d’Italia, die Partei von Meloni, stimmte im EU-Parlament jetzt vorwiegend gegen von der Leyen.
«Die grössten Verlierer bei den Europawahlen, die Grünen oder die Sozialisten wie Timmermans und die Liberalen von Macrons Partei, sind diejenigen, die das Schicksal von Ursula von der Leyen in die Hand genommen haben, und Ursula von der Leyen hat sich ihnen ausgeliefert. Wir hätten eine andere Wahl bevorzugt, wir respektieren sie, und in den kommenden Tagen werden wir mit unserer seriösen und verantwortungsvollen, aber entschlossenen Art an den Inhalten arbeiten», kommentierte der Europaabgeordnete der Fratelli d’Italia, Nicola Procaccini, die Wahlen.
In EU-Parlamentskreisen wird kolportiert, dass manche Fratelli-Abgeordnete für von der Leyen gestimmt haben, aber in der Öffentlichkeit behaupteten gegen sie zu stimmen, um die rechtspopulistischen Kreise in der EU (zum Beispeil die Orban-Fraktion) nicht zu verärgern. Das sind Spekulationen.