Ist in Syrien Giftgas verwendet worden? - Die Antwort scheint Ja zu sein. Schon seit geraumer Zeit haben beide Seiten im Bürgerkrieg der Gegenseite vorgeworfen, sie habe Giftgas verwendet. Dass allerdings die Rebellen über Giftgas verfügen könnten, ist unwahrscheinlich.
Umgekehrt ist bekannt, dass der syrische Staat über bedeutende Lager von Giftgas verfügt. Opfer unter der Bevölkerung, die Symptome aufweisen, welche Vergiftungen mit Sarin entsprechen, sind bekannt und dokumentiert. Der syrische Staat hat den Fachleuten der UNO, die in Zypern darauf warten, nach Syrien einreisen zu dürfen, um die Vorfälle zu untersuchen, mehrmals die Einreiseerlaubnis abgeschlagen. Ihre Einreise wurde zwar nicht grundsätzlich abgelehnt, jedoch unbestimmt auf später vertagt.
Die Geheimdienste der USA, Israels und Grossbritanniens scheinen der Meinung zu sein, Giftgas, wahrscheinlich Sarin, sei verwendet worden. Präsident Obama hatte den Einsatz von Giftgas im vergangenen Dezember als «rote Linie» bezeichnet. Wenn Damaskus sie überschreite, so hiess es, würde dies die gesamte Lage verändern.
Gründe zur Vorsicht
Doch gerade diese Warnungen können nun als ein Motiv gesehen werden, das die Rebellen dazu verführt, Giftgasangriffe zu melden in Fällen, in denen es sich möglicherweise um Vergiftungen durch Brände oder Rauch handeln könnte. Ausserdem ist unbekannt, in welchem Ausmass Giftgas verwendet worden sein soll. Bisher sind nur einzelne Fälle von Opfern dokumentiert, aber keine grossen Massen von vergifteten Menschen.
In Washington erinnern sich alle daran, dass der Irakkrieg mit Falschmeldungen über Massenzerstörungswaffen begann. Derartige Fehler möchte man heute vermeiden. Es besteht auch offensichtlich wenig Begierde, in Syrien einen Krieg der Nato oder der Amerikaner zu entfesseln, weil die Gefahr dabei allzu gross wäre, einen Schwelbrand im Zentrum der arabischen Welt zu entfachen, dessen Folgen nicht absehbar wären.
Zwang zur Aktivität
Auf der anderen Seite jedoch dürfte Washington sich veranlasst sehen, etwas zu unternehmen, wenn sich die Giftgasangriffe bestätigen sollten, allein schon, um nicht leere Drohungen ausgesprochen zu haben und dadurch die eigene Glaubwürdigkeit zu schädigen. Am wahrscheinlichsten scheint aus diesen Gründen, dass Washington fortfahren wird mit den kleinen Schritten der «nicht todbringenden» Unterstützung der syrischen Rebellen und der vermutlichen heimlichen und indirekt laufenden Waffenbeschaffung. Alles wie bisher, nur vielleicht ein klein wenig intensiver.
Der Umstand, dass offensichtlich die radikal-islamistischen Kräfte im syrischen Widerstand eine immer stärkere Rolle spielen, trägt natürlich zur Ungewissheit der Amerikaner bei. Für wen würden sie sich engagieren, wenn sie in irgendeiner Form direkt mit den Waffen in Syrien eingriffen? Könnte es nicht sein, dass ihre Einsätze schlussendlich zum Vorteil der mit der Qaeda sympathisierenden radikalen Islamkämpfer wirkten? So, wie ihre Irak-Aktion ja schlussendlich die Interessen Irans gefördert hat.
Unklare Interessenlage auch in Damaskus
Wenn man sich fragt, was denn die Asad-Armee mit Gasangriffen bezweckt habe könnte, gibt es kaum einleuchtende Antworten. Es liegt offensichtlich nicht in ihrem Interesse, die Amerikaner soweit zu provozieren, dass sie möglicherweise in irgendeiner Form direkt eingreifen oder ihre bereits bestehenden, mehr oder minder geheim gehaltenen Eingriffe steigern. Falls dennoch Gas eingesetzt wurde: Müsste man nicht eher an einen organisatorischen Fehler oder eine Insubordination unterer Stellen denken, um das Geschehen zu erklären?
Oder aber soll man annehmen, es sei Asad darum gegangen, die Amerikaner zu erproben, zunächst mit einem kleinen Gasangriff? Wenn sie nicht reagierten, würde er dann zu grösser angelegten Giftgasangriffen übergehen. - Solche Schachzüge wären höchstens plausibel, falls das Asad-Regime viel prekärer dastünde, als man es bisher vermutet hatte. Giftgaseinsätze in grösserem Stil liessen sich ja nur als Verzweiflungsakte erklären, die auf eine Notlage zurückgingen, die den Einsatz der letzten und brutalsten aller vorhandenen Kampfmittel veranlasste.
Die Sicht des syrischen Widerstandes
All diese Verzögerungen und Unsicherheiten auf der Seite der Amerikaner und Europäer sind für Bewohner des Westens leicht nachzuvollziehen. Doch man sollte auch daran denken, dass sie in Syrien selbst ganz anders wirken: nicht als vorsichtiges Taktieren, sondern als «Beweis für eine Verschwörung des Westens gegen Syrien».
Für die syrischen Kämpfer und die notleidende syrische Bevölkerung ist es schlechterdings unbegreiflich, dass der Westen ihnen nicht wirksam zu Hilfe kommt. Die einzig naheliegende Erklärung dafür, dass dies nicht – und nun auch nicht angesichts der Giftgasfälle! – geschieht, ist in ihren Augen, dass der Westen darauf ausgehe, Syrien langsam zu Grunde gehen zu lassen, indem er dafür sorgt, dass die Syrer einander bekämpfen und aufreiben. Zweck der Übung wäre, den Staat der Syrier zugrunde zu richten, um dann zum Schluss selbst die Herrschaft dort zu ergreifen, sei es direkt oder indirekt.
Blosse Verschwörungstheorien?
Solche Vorstellungen kann man natürlich als blosse Hirngespinste abweisen. Doch man sollte dies nicht tun, bevor man sich die Lage der Syrer genau vor Augen geführt hat. Von ihnen aus gesehen ist es wirklich logisch und offensichtlich, dass sie «genügend Unterstützung erhalten, um weiterzukämpfen und nicht genügend, um durch ein erfolgreiches Ende des Krieges dem Blutvergiessen ein Ende zu setzen».
Die komplizierten Abwägungen der echten oder vermeintlichen oder vermuteten eigenen Interessen in Washington und in den europäischen Hauptstädten, die das Verhalten der westlichen Staaten bestimmen, liegen den Syrern fern. Für sie sind solche Beweggründe unwirklich. Deshalb erscheint in Syrien die logische Antwort auf die Frage «Weshalb?» gerade jene Erklärung zu sein, die vom Westen aus gesehen als Verschwörungstheorie abgelehnt und gebrandmarkt wird.
Diese Antwort ist übrigens eine der wenigen Überzeugungen, die beiden Seiten im syrischen Bürgerkrieg gemeinsam sein dürften. Auch das Asad-Regime glaubt daran – zweifellos ziemlich aufrichtig, obwohl dieser Glauben natürlich propagandistisch untermalt und hyperbolisch aufgeblasen wird –, dass es sich bei den syrischen Kämpfen «im Grunde» um einen «neokolonialen» Versuch handle, der vom Westen gesteuert werde und darauf abziele, den syrischen Staat zugrunde zu richten, damit am Ende des Zerstörungsprozesses der Westen «wieder» regieren könne.
Der Freiheitskampf verliert Glaubwürdigkeit
Als die Unruhen in Syrien vor zwei Jahren in der Form von gewaltlosen Demonstrationen begannen, glaubten die Demonstranten nicht an eine solche Verschwörung. Vielmehr nahmen sie an, dass der Westen ihre Bemühungen um Selbstbefreiung sympathisierend mittrage. Das Asad-Regime seinerseits dürfte sofort die heimliche Hand des Westens hinter den Demonstrationen vermutet haben. Nun, mit der zunehmend bitteren Enttäuschung der Freiheitskämpfer über die mehr verbal als tatsächlich fliessende Hilfe des Westens, müssen seine Feinde dem verhassten Staatschef beinahe Recht geben. - «Ist es nicht wirklich so, dass sie in erster Linie Syrien zerstören wollen?»
Wer in Syrien solche Zweifel hegt, wird geneigt sein, sich entweder Asad oder den Islamisten zuzuwenden. Denn beide haben stets angenommen, dass von den westlichen «Kreuzfahrern» nichts Gutes kommen kann.
Doppeleffekt des westlichen Zögerns
So leitet das westliche Zögern, wie gut begründet es auch in westlichen Augen sein mag, das Wasser der Rebellion auf zwei Mühlen. Die eine ist jene Asads. Wer zögerte, sich ihm ganz anzuschliessen, zum Beispiel manche Leute aus der christlichen oder der drusischen Minderheit, wird nun dazu getrieben, ihm völlig Recht zu geben und sich entschlossen auf seine Seite zu stellen.
Die andere Mühle ist jene der Islamisten. Wer sich gezwungen sieht, immer auschliesslicher daran zu glauben, dass die Leute des Westens einem neokolonialistischen Komplott nachgehen, wird sich von dem liberalen Gedankengut der ursprünglichen Träger des Aufstandes abwenden. «Man sieht es ja, dass sie vom Westen verführt und hereingelegt werden und sich hereinlegen lassen», wird er urteilen. «Die Islamisten hatten Recht, den Leuten aus dem Westen nie zu trauen und stets darauf auszugehen, einen syrischen Staat aufzubauen, der nicht auf westliche Wunschvorstellungen eingeht, sondern auf unsere eigene Ordnung, die gottgegebene islamische.»
Solche ideologische Beweggründe werden natürlich weiter bestärkt durch den Umstand, dass die besagten Islamisten erstens als die Erfolgreichsten im Kampf gegen Asad erscheinen und dass sie zweitens noch am ehesten über die Mittel verfügen – Geld und Waffen – , die ihnen erlauben, mit wenigstens einigen Erfolgschancen zu kämpfen und möglicherweise zu überleben.