Zunächst ist festzuhalten, wer und was sich in Europa wirklich in der Krise befindet. Schaut man sich die einzelnen europäischen Länder an, dann befinden sich Griechenland ganz sicher, verschiedene südeuropäische Länder und auch Franreich tendenziell in einer Wirtschafts- und Sozialkrise, die nordeuropäischen Länder und auch Deutschland aber nicht.
Der Euro ist als zweite Weltwirtschaftswährung fest etabliert und wirkt im Moment als wichtiges wirtschaftliches und politisches Bindeglied zwischen den 19 EU-Mitgliedern der Eurogruppe, ja überhaupt innerhalb der EU der 28. Bestünden nämlich noch ausschliesslich nationale Währungen, wären die harten darunter längst enteilt, was währungs- und wirtschaftspolitisch zu schweren Verwerfungen innerhalb des gemeinsamen Markts geführt hätte und politisch die gegenwärtige Führungsrolle Deutschlands noch viel stärker betonen würde. Letzteres wird aus zahlreichen Gründen, ganz speziell historischer Natur, weder von den übrigen EU-Mitgliedern, noch von Berlin gewünscht.
Bankenunion, Fiskalunion
Zentrales Problem des Euro ist seine bislang alleinige Verankerung in der Europäischen Zentralbank. Der EZB kommt in der gegenwärtigen Phase der Überwindung tiefgreifender Strukturkrisen in Südeuropa unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung des globalen Status des Euro fundamentale Bedeutung zu. Auf Dauer kann aber die europäische Notenbank nicht als politische Stütze und Motor des europäischen Einigungsprozesses dienen. Die Währungsunion wird um eine Bankenunion (bereits im Gange) und zumindest um Elemente einer Fiskalunion zu ergäntzen sein.
Solche schwerwiegende Transformationsprozesse, welche der EU durch die Krise aufgedrängt werden, geschehen selbstverständlich nicht im aussenpolitisch luftleeren Raum. Europäische Aussenpolitik beschäftigt sich an erster Stelle mit den Vorgängen an seiner östlichen und südlichen Peripherie. Dort scheinen im Moment überhaupt nur Probleme zu bestehen.
Unverzichtbare europäische Energieunion
Das potentiell gravierendste Problem ist die ungezügelte Machtpolitik von Putin. Unter Verkennung der eklatanten Schwächen Russlands scheint er entschlossen, der EU seine Vorstellung einer russisch dominierten Eurasischen Union entgegen zu stellen. Dass er dabei vor offensichtlich im Voraus geplanter militärischer Aggression nicht zurückschreckt, verändert die gesamte strategische Einschätzung des Westens seit der Zeitenwende von 1989/90. An die Stelle einer mehr oder weniger stillschweigenden Partnerschaft mit Russland muss leider wieder eine Containment-Politik treten.
Für die EU bedeutet dies konstitutionell vordringlich die Schaffung einer Energieunion. Diese stand schon seit geraumer Zeit auf der Wunschliste, wird nun aber strategisch unverzichtbar. Zu offensichtlich ist die Abhängigkeit verschiedener östlicher EU-Mitglieder von russischer Energie und zu eklatant der Wille Putins, die Energiewaffe offensiv einzusetzen.
Gesamteuropäische Aufgabe
Weit schwieriger wird sich die weitere Vergemeinschaftung von Aussen- und speziell Sicherheitspolitik gestalten, die GASP. Es geht um Kernkompetenzen der Nationalstaaten, welche nicht einfach aufgegeben werden. Indes sind die neuen stratgischen Herausforderungen hier speziell sicht- und fühlbar. Neben der Notwendigkeit neuer Sicherheitsanstrengungen im Osten, via Nato und/oder rein europäischer Strukturen, handelt es sich um die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns im Nahen Osten und in Afrika.
Angesichts der Zermahlmung der arabischen Demokratierevolutionen durch nationale ‘Eliten’ ohne geringste Bereitschaft, Macht und Geld zu teilen (Syrien, Ägypten) einerseits und islamistisch verbrämter Saubannerzüge frustrierter Jugendlicher (IS) andererseits, lassen sich die daraus entstehenden Probleme nicht mehr länger mit dem Ausfeilen von Schengen-Regeln lösen. Der Kampf gegen den Islamextremismus, vor Ort und hier kann nur als gesamteuropäische Aufgabe begriffen werden. Dass dies nicht nur normative Wunschträume sind, sondern beginnende Realität - übrigens für EU-Mitglieder und andere - zeigen Fälle wie die nun endlich anlaufende Aufarbeitung des Genfer HSBC-Skandals, wo ja offensichtlich keineswegs nur fiskalisch unreines Geld gewaschen worden ist.
Wanderbewegungen
Momentan im Zentrum von Europas Bedrohung aus dem arabischen und afrikanischen Raum steht indes das Immigrationsproblem. Dies nicht in erster Linie wegen der - teilweise aus physischer Notlage, oft auch aus wirtschaftlicher Not - nach Europa, und vor allem Nordeuropa drängenden illegalen Immigranten. Immigration bringt, mit dem kommenden Wirtschaftsaufschwung dringend benötigte Arbeitskräfte und wirkt tendenziell der gesellschaftlichen Überalterung entgegen.
Nun ist aber offensichtlich, dass sich solche Wanderbewegungen nicht einfach auf Wirtschaftsmechanik reduzieren lassen. Einwanderung ist immer und zunächst auch soziale und gesellschaftliche Herausforderung. Entgegen seinem Ruf als eigentlich saturierte Gesellschaft hat Europa in den letzten Jahrzehnten auf interne und von aussen kommende Wanderbewegungen gesamthaft reif und integrationswillig reagiert.
Demokratie gegen extreme Parteien
Je fremder die Kulturen, welche sich auf engem Raum begegnen und auch reiben, desto schwieriger und explosiondgefährdeter wird aber die Integration. Und damit auch der Gefahr, dass Parteien vom extremen Rand in die akzeptable Mitte rutschen, welche mit simplen Methoden vermeintlich Remedur versprechen. Dies an nationalen Grenzen, welche im 21. Jahrundert angesichts von Mobilitäts- und Kommunikationsrevolutionen nicht mehr ihre klassische Funktion als Sicherheitszaun haben können.
Angesichts einer scheinbar immer höher brandenden Flut überfüllter Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer sind wir an einem Punkt angelangt, wo nationalistisch-ausgrenzende Parteien immer mehr Zufluss aus allen Wählerschichten erhalten. Dem kann in den demokratischen Staaten Europas nur mit mehr Demokratie begegnet werden.
Mehr Demokratie bedeutet mehr Transparenz und das Bewusstsein für die Bürger in den einzelnen Staaten, dass ihre Stimme auch und gerade in den grossen Entscheidungen Gewicht haben, welche Europa gar nicht mehr anders kann als gemeinschaftlich zu fällen.
Deutsches Ja zur Griechenland-Hilfe
Entgegen der Rethorik der nationalistischen Parteien bestehen hier natürlich bereits echte Ansätze dazu. Da ist einmal das Europäische Parlament zu nennen, dessen Kompetenzen langsam aber beharrlich ausgebaut werden. Sein Hauptproblem bleibt aber, dass es von den grossen nationalen Parteien nicht immer wirklich ernstgenommen wird und in der Folge mit im nationalen Politikkonzert zweiten Geigen beschickt wird.
Aber auch nationale Parlamente sind gerade angesichts der gegenwärtigen Häufung von Problemen immer mehr aufgefordert, in ihren nationalen Entscheidungen auch gesamteuropäische Aspekte entscheidend mit zu berücksichtigen. Jüngstes Beispiel ist die Gutheissung des Sanierungsplanes für Griechenland im deutschen Bundestag. Allein in nationaler Perspektive waren angesichts der über 60 Milliarden Euro griechischer Staatsschulden, welche die BRD bereits garantiert, berechtigte Zweifel durchaus angebracht. In gesamteuropäischer Perspektive, zudem wiederum mit Blick auf europäische Geschichte, war keine andere deutsche Antwort möglich.
Dies ist keine Missachtung von ja durchaus Änderungen unterworfenem Volkswillen, sondern gerade umgekehrt die Wahrnehmung einer gewissen Führungs- und Anleitungsfunktion gewählter Volksvertreter, welche mit zu den Grundlagen unseres Politsystems gehört. Indes wird auch dieses sich weiter den gesamteuropäischen Herausforderungen anzupassen haben. Bei einer besseren ‘Demokratieunion’ liegt die wohl grösste institutionelle Herausforderung für die EU. Und natürlich auch für Gesamteuropa, wo bekanntlich noch zwei mittlere Staaten mit jahrhundertelanger, ungebrochener Tradition demokratischer Bürgergesellschaften dazu beitragen könnten, wenn sie nur wollten.