Die griechische Regierungspartei Nea Dimokratia hat die Wahlen vom 21. Mai gewonnen. Da sie die absolute Mehrheit an Sitzen verfehlte, wird am 25. Juni wieder gewählt.
Die Nea Dimokratia (ND) von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis erhielt 40,8% der Stimmen bei den griechischen Parlamentswahlen gegenüber 20,1% für die oppositionelle linke SYRIZA. Die sozialdemokratische PASOK legte stark zu. Ein erstaunliches Resultat, wenn man bedenkt, dass die Regierung der letzten vier Jahre in einen Abhörskandal verwickelt ist, die Covid-Pandemie schlecht gemeistert hat, das Land unter Inflation leidet und ein tödliches Zugsunglück die Öffentlichkeit erzürnte.
Allerdings verfehlte die ND die für eine Alleinregierung erforderliche Anzahl von Sitzen. Eine provisorische Regierung wird nun die Regierungsgeschäfte führen und die Wählerinnen und Wähler werden bereits am 25. Juni wieder zu den Urnen gerufen. Dieser zweite Wahlgang wird dann nach einem anderen Wahlsystem durchgeführt, bei dem die erstplatzierte Partei 50 zusätzliche Parlamentssitze «geschenkt» bekommt.
ND legt zu, SYRIZA bricht ein – warum?
Ich habe zwar erwartet, dass die Nea Dimokratia stärkste Partei sein würde, aber auch für mich kommt das Ausmass des Sieges und der starke Einbruch von SYRIZA unerwartet. Warum gewinnt Mitsotakis trotz katastrophaler Bilanz nach vier Jahren? Eine hohe Inflation von über 10%, rekordverdächtige Corona-Todeszahlen bei extrem einschränkenden Massnahmen und ein im Land unpopuläres aussenpolitisches Klientelverhältnis zu den USA, bei dem zum Beispiel neue NATO-Basen mir nichts, dir nichts ohne Gegenleistungen willkommen geheissen werden, würden dieses Resultat nicht erwarten lassen.
Ich muss gestehen, dass ich bis zu einem gewissen Grad ratlos bin. Sicher hat das Resultat auch mit den «gleichgeschalteten» Medien zu tun. Als ich in den frühen 90er Jahren erstmals in Griechenland war, haben die Medien die Regierung des Vaters des heutigen Regierungschefs ständig durch den Kakao gezogen, kritisiert und zum Teil auch auf unflätige Art angegriffen.
Weil vor allem die Fernsehstationen in den letzten vier Jahren mit Subventionen überschüttet wurden, regt sich kaum Kritik an der Administration und wird deren Bilanz und deren Eigenlob kaum hinterfragt. Wenn ständig nur positiv berichtet wird, wenn Kritik unterdrückt wird und man auf kleine Medien und Blogs ausweichen muss, um ausgewogene Berichterstattung zu finden, dann zeigt sich erneut, dass praktisch jede Botschaft geglaubt wird, wenn sie nur genug oft wiederholt wird.
In Sachen Menschenrechte und Gewaltentrennung war Griechenland nie ein Musterschüler. Nun ist das Land auch in Sachen Pressefreiheit in Europa praktisch am Schluss angelangt – weit hinter den bekannten Prügelknaben Ungarn und Polen. Und das scheint im Unterschied zu den beiden genannten Ländern niemanden zu kümmern – weder in Brüssel noch in Washington regt sich mehr als leise Kritik.
Niemand erwartete somit den Umfang des ND-Sieges, auch die ND nicht. Viele Wählerinnen und Wähler haben für das Bekannte gestimmt – die Unsitte der Parteien, Wahlversprechen zu machen, die nicht eingehalten werden können, wird zwar von den Bürgerinnen und Bürgern durchschaut, aber die Masche zieht trotzdem. Wählerstromanalysen zeigen beispielsweise, dass nicht nur wie zu erwarten wäre, ältere Semester für dieses Resultat verantwortlich sind, sondern auch Jungwähler – das neu gewährte Feriengeld von EUR 150.— pro Person war ein überzeugendes Argument. Dass die Inflation, die es so vor dem Amtsantritt der ND nicht gab, mehr Geld aus der Tasche zieht, ging vergessen.
Zusätzlich gelang es der ND nicht nur, die Partei des rechtsextremen Ilias Kassidiaris zu verbieten, sondern anderen kleinen Parteien Personal und damit auch Stimmen abzugraben. So hat nebst den stabilen Kommunisten nur die Griechische Lösung (Elliniki Lysi) des in Deutschland geborenen Kyriakos Velopoulos die Dreiprozenthürde für den Einzug ins Parlament geschafft.
Mindestens so überraschend wie der Umfang des ND-Sieges ist aber der Einbruch von SYRIZA um nicht weniger als 11 Prozentpunkte. Allerdings lässt sich dieses Resultat leichter erklären als dasjenige der ND. In einem parlamentarischen System wie dem griechischen besteht die Aufgabe der grössten Opposition darin, Opposition zu machen. Und das hat SYRIZA nicht getan. Während der Pandemie hörte man kaum Kritik an den extrem einschränkenden und gleichzeitig ineffizienten Massnahmen. SYRIZA hatte nichts dagegen einzuwenden, dass die vielen obligatorischen Corona-Tests kostenpflichtig waren, und auch der Impfzwang im Gesundheitswesen wurde kaum zum Thema gemacht. Selbst die Tatsache, dass etwa 40’000 Fachkräfte im unterfinanzierten Gesundheitssystem in einem kritischen Zeitpunkt auf unbezahlten Urlaub geschickt wurden, schien die sonst auf Arbeitsplatzerhalt insistierende Linkspartei nicht gross zu stören. Auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, insbesondere die hohe Inflation, wurden von der Opposition viel zu wenig thematisiert. Im Wahlkampf kam dann Parteichef Tsipras wie gewohnt schrill und klassenkämpferisch daher, was auch nicht ankam.
Bereits wird – wohl weil das Ergebnis so überraschend deutlich ist – hinter vorgehaltener Hand von Wahlbetrug gesprochen. Ich kann zwar nicht glauben, dass das eine Rolle gespielt hat und habe auch keine entsprechenden Hinweise. Aber einerseits war die Vorgängerpartei der ND noch in den frühen Sechzigerjahren eine notorische Wahlbetrügerin, andererseits ist schon die Tatsache, dass solche Gerüchte die Runde machen, ein Alarmzeichen. Gegenüber 2019 ist Wahlbeteiligung der Auslandsgriechen erleichtert worden. Dies wirkte sich ebenfalls tendenziell zugunsten der Regierungspartei aus. Problematisch sind diese Erleichterungen insofern, als Griechinnen und Griechen im Ausland die Folgen ihrer Wahl dann kaum ausbaden müssen.
Eine dritte Wahl?
Für den Fall, dass nach dem 25. Juni immer noch keine absolute Mehrheit an Sitzen resultieren würde, hat Mitsotakis die Idee vorgebracht, noch ein weiteres Mal Parlamentswahlen abzuhalten, eventuell schon im August, eventuell aber erst im Oktober, zusammen mit den Lokalwahlen. Der August ist der traditionelle Ferienmonat der Griechen und vor allem ärmere Menschen und die untere Mittelklasse könnten es sich kaum leisten, an den Wohnort zurückzufahren und zu wählen – was der ND nützt.
Bisher ist die Frage kaum thematisiert worden, ob es wirklich demokratischen Gepflogenheiten entspricht, so lange wählen zu lassen, bis das Ergebnis passt.
Prominente Neudemokraten sprechen zudem davon, eine noch deutlichere Mehrheit anzupeilen, so dass Verfassungsänderungen ohne die Mitwirkung der Opposition möglich werden, etwas, was bisher ausserhalb der Reichweite auch stabiler Regierungen lag. Für diesen Fall käme beispielsweise die Abschaffung des Beamtenstatus oder die Privatisierung des Erziehungssystems aufs Tapet.
Die Privatisierung des Gesundheitswesens ist bereits angedacht.
Die Mahnungen der Europäischen Kommission und das böse Erwachen
Wie ein Dämpfer kamen nach den Jubelmeldungen der ND die Empfehlungen der Europäischen Kommission. In den griechischen Medien nur am Rande erwähnt, enthalten sie Sprengstoff. Die EU kritisiert die Tatsache, dass die Regierung Firmen und privaten Haushalten während der Pandemie hohe Zuschüsse, Beihilfen und Subventionen gewährte und sich so populär machte, und plädierte für die Begrenzung der Steigerung der Nettoprimärkosten (Kosten ohne Schuldendienst) für 2024 auf 2,6% gegenüber 2023. Wenn man die zweistellige Inflationsrate in die Berechnung einbezieht, ist das happig und wäre eine grosse Änderung im Vergleich zum grosszügigen Ausgabenwachstum der letzten vier Jahre, obwohl das der bisherige Finanzminister naturgemäss anders sieht.
Gleichzeitig fordert die Kommission die griechische Regierung auf, eine Reihe von chronischen Schwächen der griechischen Wirtschaft anzugehen, wie beispielsweise die Steuerhinterziehung, insbesondere bei den Selbstständigen, und die geringe Effizienz des öffentlichen Sektors, während sie vor dem sich ausweitenden Leistungsbilanzdefizit und den drohenden Schwierigkeiten bei der Absorption der EU-Mittel warnt. In der Tat ist das Zahlungsbilanzdefizit ein guter Indikator für den strukturellen Zustand einer Volkswirtschaft. Und es kletterte letztes Jahr auf knapp zehn Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandprodukt BIP) – exakt so hoch war es im Jahr vor dem Ausbruch der Schuldenkrise …
Kürzlich habe ich eine meiner Stromrechnungen für das Haus in Griechenland etwas näher angesehen. Sie bewegte sich im üblichen Rahmen. An auffälliger Stelle war aber der Betrag notiert, um den die Rechnung von der Regierung verbilligt wurde. Und das soll sich jetzt ändern. Eine der Empfehlungen der Kommission besteht darin, die Unterstützungsmassnahmen gegen Energiepreiserhöhungen bis Ende 2023 abzuschaffen und die dadurch eingesparten Mittel zum Abbau des Haushaltsdefizits zu verwenden. Es ist klar, dass die Kommission möchte, dass finanzpolitischer Spielraum für bessere Haushaltsergebnisse und nicht für Vergünstigungen genutzt wird.
Eines ist klar: Es wird ein böses Erwachen geben, wenn die nächste Regierung fest im Sattel sitzt und die fiskalischen Zügel anzieht.
Die grösste Chance für Griechenlands Wirtschaft besteht nach wie vor im Tourismus. Es locken schöne Strände, sauberes Meer, gutes Essen, interessante archäologische Stätten und Kulturgenuss. 2023 dürfte wieder ein Rekordjahr werden. Was diese Bilanz trüben könnte, ist der akute Arbeitskräftemangel im Tourismus. Etwas Abhilfe schaffen würden Lohnerhöhungen. Das würde aber wiederum die Inflation befeuern, was wiederum unerwünschte Wirkungen haben dürfte.
Aber bevor wir uns für den Sommer auf unsere Insel verabschieden, warten wir das Ergebnis der zweiten Parlamentswahlen ab – und berichten darüber.