Liegt es an der Religion, dass junge fanatisierte Männer für ihre Sache sterben wollen? Studien zeigen etwas anderes. Bruderschaften sind wichtiger als der Glaube. Sie begründen die totale Trennung zwischen Freund und Feind wie auch die apokalyptische Weltsicht.
Der Anthropologe Scott Atran ist Extremismus-Feldforscher. Seine Studien führen ihn mitten unter junge Männer, die für ihren Glauben sterben wollen, in Afghanistan, Pakistan, Indonesien, im Nahen Osten. Ihn interessiert, was unter der Balaklava vorgeht.
Fussball unter Talibans
Im Gespräch mit einem Talibankämpfer habe ihn eine «Epiphanie» ereilt, erzählt Atran. Danach gefragt, wie der soziale Kontakt unter seinen Mitstreitern funktioniere, wenn sie nicht kämpften oder trainierten, antwortete der Taliban, sie würden Fussball spielen. Fussball bindet eine Gruppe sozial, eint sie, fokussiert sie auf ein Ziel. Ob Jihad oder Match, es gibt die Gläubigen und die Ungläubigen, die eigene Mannschaft und den Gegner, Sieg oder Niederlage, alles andere ist Nebensache: das Tertium non datur des Extremismus. – Eine verstörende Symmetrie öffnet sich plötzlich: Fussballfans unterstützen ihre Mannschaft mit oft geradezu religiösem Eifer; und religiöse Eiferer spielen in der Kampfpause Fussball.
Hüten wir uns vor Fehlschlüssen wie «Jihadisten sind fehlgeleitete Fussballer» oder «Fusballfans sind verkappte Extremisten». «Vielleicht sterben sie für die Träume des Jihad,» meint Atran, «aus der Hingabe an einen familienartigen Kreis von Freunden und Mentoren, die sich aktiv für ‚Gleichartige’ sorgen wie die Marines.» Gewiss würde die brachiale Interpretation der heiliger Schriften eine Rolle spielen, aber bei seinen Interviews mit Jihadisten beobachte er oft, dass sie herzlich wenig Bescheid über den Islam wissen. Da müsse etwas anderes am Wirken sein.
Das «Bruderschaftliche» im Extremismus
Nun, was denn? Atran interessiert sich seit 9/11 für die religiöse Motivation menschlichen Handelns. Ihm fiel indes in seinen Befragungen schon früh auf, dass junge Männer sich oft aus anderen als religiösen Gründen dem Jihad anschlossen. «Fussball, Paintball, Kampieren, Wandern, Rafting, Bodybuilding, Kampfkunst (…) schaffen einen Haufen Kumpel, die eine ‚Bruderschaft’ in einer einzigen heroischen Sache werden.» Es genüge gewöhnlich, dass sich einige wenige mit dieser Sache identifizieren, um den Rest zum loyalen Mitmachen bis in den Tod zu bewegen. «Ein verlässlicher Prädiktor für den Anschluss an den Jihad (ist) die Mitgliedschaft in einer aktionsorientierten Gruppe, die zum Beispiel Paintball oder Fussball spielt.» Deshalb sollte man sich im Studium der religiösen Gewaltkeime vermehrt um den sozialen Gärteig, das «Bruderschaftliche» im Extremismus kümmern. Eine Gegenmassnahme «müsste darin bestehen, den sinnsuchenden, risikofreudigen, abenteuerlichen Geist der Jugend für heroische Taten zu mobilisieren.» Aber für einen Heroismus, der nicht darin besteht, sich und andere in die Luft zu bomben.
Wie tragfähig die empirische Basis für Atrans These auch sein mag, sie provoziert einen Blickwechsel von der Religion zur Anthropologie, genauer: zu den sozialen Netzwerken von heute, zumal in den religiösen und kulturellen Zentren, in Treffpunkten und Sportclubs der Banlieues europäischer Metropolen. Dadurch nimmt sie jener Agitprop den Wind aus den Segeln, die generell in der Religion, speziell im Islam, die Wurzel des Terrorismus ausmachen will.
Bezeichnenderweise schlägt Atran besonders gehässige Kritik seitens der sogenannten Neuen Atheisten entgegen, welche ihr simplistisches Rezept – Religion weg = Übel weg – durch seinen Erklärungsansatz in Frage gestellt sehen. Er betreibe Exkulpation des Islams und sei deshalb geistig grenzwertig, lässt etwa der neo-atheistische Evangelist und Neurobiologe Sam Harris verlauten.
Apokalyptischer Showdown
Terrorismus mag einem schwer entwirrbaren Knäuel von Motiven und Ursachen entspringen. Deutlich erkennbar ist aber ein virulentes Denken, das sich aus der Vorstellung eines apokalyptischen Showdowns speist. Es ist nicht auf den Islam beschränkt. Man denke nur an das Armageddon-Splatterfilmgenre mit seinen Rambo-Erlösern. Ein Clash der Endzeitvisionen. Und gerade deshalb sollten wir uns bewusst machen, dass wir mit Attacken gegen «die» Religion und gegen «den» Islam just das konfrontative Klima erzeugen, das der Jihadist will: nämlich jenes eines apokalyptischen Matchs.
Die siebente Online-Ausgabe im Jahr 2015 des englischsprachigen IS-Magazins «Dabiq» – der mythische Ort des Endkampfes – steht unter dem Titel «Auslöschung der Grauzone». Ziel sei es, das ganze Spektrum zwischen Glauben und Unglauben auszuradieren, um so die Polarisation in Richtung finalen Krieg voranzutreiben. – Dann doch lieber den Final mit dem Ball statt mit der Bombe!