Wenn man den spärlichen offiziellen Informationen glauben kann, dann war es bloss ein Routineeingriff. Die Operation sei ohne Komplikationen verlaufen, verkündete ein Regierungssprecher, nachdem Cristina Fernández de Kirchner im Privatspital Fundación Favaloro in Buenos Aires ein Bluterguss unter der Schädeldecke entfernt worden war. Die Ärzte verordneten der Präsidentin allerdings nach der Entlassung aus dem Krankenhaus absolute Schonung. Einen Monat lang soll sie sich nicht bloss von den Regierungsgeschäften, sondern vom gesamten politischen Geschehen fernhalten, ja sich überhaupt nicht anstrengen.
Alle Macht der Präsidentin
Cristina Kirchner hat nie verhehlt, dass in der Casa Rosada, dem Regierungssitz, sie und nur sie das Sagen hat, egal ob es sich um Fragen von grosser Tragweite oder blosse Bagatellen handelt. Deshalb ist nicht anzunehmen, dass sie sich streng an die ärztlichen Anweisungen halten und mehrere Wochen nicht regieren wird. Dies umso weniger, als sie grundsätzlich allen misstraut, wie sie kürzlich in einem Fernsehinterview verriet.
Wegen ihrer gesundheitlichen Probleme kann sie aber im Wahlkampf für die Parlamentswahlen, in dem sie vor der Operation eine dominante Rolle gespielt hatte, nicht mehr aktiv mitmischen. Dabei wären die Kandidaten der linksperonistischen Regierungskoalition Frente para la Victoria (FPV - Front für den Sieg) dringend auf ihre Unterstützung angewiesen, haben sie doch bei den Vorwahlen im August durchweg schlecht abgeschnitten.
Der verflossene Traum der Wieder-Wiederwahl
Meinungsforscher gehen davon aus, dass die Sympathiewerte für die Präsidentin nach der Operation leicht gestiegen sind. Das könnte der FPV am Sonntag, wenn die Hälfte der Abgeordneten und ein Drittel der Senatoren neu gewählt werden, ein paar zusätzliche Prozentpunkte eintragen, aber den Ausgang kaum grundsätzlich beeinflussen. So gross wie 2011, ein Jahr nach dem unerwarteten Tod ihres Ehemanns und Vorgängers Néstor Kirchner, dürfte der Empathieeffekt diesmal keinesfalls sein. Damals schaffte Cristina Kirchner die Wiederwahl mit 54,1 Prozent der Stimmen.
Nach jenem Triumph überraschte es nicht, dass die Präsidentin mit einer dritten aufeinander folgenden Amtszeit zu liebäugeln begann. Voraussetzung für eine zweite Wiederwahl im Jahr 2015 wäre jedoch eine Verfassungsänderung, und eine solche könnte Cristina Kirchner nur durchsetzen, wenn sie bei den Wahlen in beiden Parlamentskammern eine Zweidrittelmehrheit erreichen würde. Dieses Ziel ist jedoch nach der Schlappe bei den Vorwahlen im August alles andere als realistisch. Selbst unter ihren Anhängern dürften nicht allzu viele den (Zweck-)Optimismus des engen Kirchner-Vertrauten, Luis D’ Elia, teilen, der auf Twitter der FPV einen „grossen Triumph, der das Andenken von Néstor ehrt und dem Herzen von Cristina neue Kraft gibt“, voraussagte.
Das Kreuz mit dem Vize
Richtig entspannen wird sich die Staatschefin auf dem Krankenlager wohl auch deshalb nicht können, weil während ihrer Rekonvaleszenz Vizepräsident Amando Boudou von Amtes wegen das Ruder in der Hand hat. Wirklich etwas entscheiden darf er freilich nicht. Er soll die unvermeidlichen protokollarischen Aufgaben übernehmen, sich aber sonst soweit als möglich im Hintergrund halten. Mit gutem Grund: Boudou, dem Korruption und unrechtmässige Bereicherung vorgeworfen werden, gilt laut Meinungsumfragen als Argentiniens unbeliebtester Politiker. Selbst in Regierungskreisen bekennt sich inzwischen kaum mehr jemand öffentlich zu ihm. Boudou ist für die Kirchneristas zu einer Hypothek geworden, die sie lieber heute als morgen loswürden.
Galoppierende Inflation und hohe Kriminalität
Auch die grosse Mehrheit der Bevölkerung würde dem Vizepräsidenten keine Träne nachweinen. Letztlich beschäftigen die meisten Argentinier aber andere Probleme weit stärker. Sie leiden mehr und mehr unter den hohen Lebenshaltungskosten. Bis Ende Jahr wird die Inflationsrate nach Schätzungen unabhängiger Wirtschaftsfachleute auf 25 bis 30 Prozent klettern und damit weltweit eine der höchsten sein. Die Regierung hat bisher auf diese Entwicklung hilflos reagiert, sie mit fragwürdigen wirtschaftspolitischen Entscheiden sogar gefördert. Wie weit Christina Kirchner hier in den verbleibenden zwei Amtsjahren noch Korrekturen vornehmen wird, lässt sich schwer abschätzen.
Sorgen bereitet einem Grossteil der Bevölkerung auch die hohe Kriminalitätsrate, besonders in der Provinz Buenos Aires. Auch diese Herausforderung hat die Regierung bisher zu wenig ernst genommen und sieht sich deshalb immer wieder mit Protestkundgebungen konfrontiert.
Ohnmächtige Opposition
Die Defizite der Regierung in der Wirtschafts- und die Sicherheitspolitik bieten den Oppositionsgruppierungen immer wieder willkommene Angriffsflächen. Mehr als vage Vorschläge haben sie allerdings in der Regel nicht zu bieten. Kommt dazu, dass sie stark zersplittert sind. Ausser dem Wunsch, die Kirchneristas in die Wüste zu schicken, verbindet sie kaum etwas. Das allein wird allerdings nicht reichen, um sich den Wählern als glaubwürdige Alternative zu präsentieren.