1964 sorgte Alexander J. Seiler mit „Siamo Italiani“ für Aufsehen. Der starke Dokumentarfilm löste Betroffenheit und Verärgerung aus. Die italienischen Fremdarbeiter erhielten eine Stimme. Daran musste sich das Publikum erst gewöhnen. Die Filmexperten des Bundes blieben unbelehrbar und lehnten eine Qualitätsprämie empört ab.
Jetzt, ein halbes Jahrhundert später, erhält Seiler am 21. März aus den Händen von Bundesrat Alain Berset den Schweizer Film-Ehrenpreis als höchste offizielle Anerkennung.
Aussergewöhnlicher Erneuerer
Der Regisseur änderte sich nicht. Es änderten sich die Zeiten. Daran leistete Seiler, der ein Leben lang kritisch, aufklärerisch und zornig brisante Themen aufgriff, einen bedeutenden Beitrag. Die Ehrung gilt einem unbequem Einflussreichen.
Alexander J. Seiler, 1928 in Zürich geboren und promovierter Theaterwissenschafter, erneuerte den Schweizer Film, führte ihn aus der idyllischen Heimatverbundenheit zu den Problemen der Gegenwart, bereicherte ihn mit zwei Spiel- und mehr als zwanzig Dokumentarfilmen, setzte filmpublizistische Massstäbe und verbesserte allgemein die Bedingungen fürs Filmschaffen.
Vielfalt des Werkes
Von besonderem Rang sind neben "Siamo Italiani" "In wechselndem Gefälle", "Musikwettbewerb", "Unser Lehrer", "Die Früchte der Arbeit", "Palaver, Palaver", die Porträts von Ludwig Hohl, Roman Brodmann und Karl Geiser sowie "Il Vento di Settembre".
Seiler arbeitete über Jahre mit June Kovach und Rob Gnant und schliesslich mit Katharina Bürgi künstlerisch eng zusammen. Äusserer Lohn waren die Goldene Palme von Cannes, der Zürcher Filmpreis, Auszeichnungen an internationalen Festivals und - dann doch noch - Qualitätsprämien des Eidgenössischen Departements des Innern.
Internationale Resonanz
Seiler gelang ein Oeuvre, mit dem der neue Schweizer Film und mit ihm die kulturelle Schweiz internationale Beachtung fanden. Das ist deshalb so bemerkenswert, weil Seiler thematisch dem eigenen Land verbunden blieb. Doch mit seiner unbestechlichen Sicht auf bewegende Probleme, ihrer messerscharfen Analyse und der packenden filmsprachlichen Formulierung erreichte er eine weit ausstrahlende Unverwechselbarkeit und Qualität.
Kunst der Einmischung
Seiler beherrschte redend, filmend und schreibend die Kunst der Einmischung souverän und mit jener wirkungsmächtigen Strenge, die nur wagen kann, wer sich für seine Unabhängigkeit allen Konsequenzen persönlich stellt.
In der frühesten Phase des neuen Schweizer Films legte Seiler mit der bohrenden Genauigkeit und der intellektuellen Redlichkeit fürs dokumentare Schaffen den ethischen Anspruch fest. Er legitimierte die Störung überkommener Wahrnehmungen und unterlief den Versuch, darin bloss Provokationen erkennen zu wollen.
Die Filme Alexander J. Seilers sind notwendige Störfälle. Ehrungen durch die Gestörten beseitigen sie nicht elegant, sondern verstärken sie enorm.