Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die russische Führung auf internationale Vermittlung pfeift, dann hat sie diesen Beweis am Tag des Besuchs des Uno-Generalsekretärs in Kiew geliefert. Brutaler als mit dem Raketenangriff auf ein Wohnhaus direkt neben jenem Gebäude, in dem António Guterres sich zu jenem Zeitpunkt aufhielt, hätte Putin seiner Verachtung für die Uno nicht Ausdruck geben können.
Zusätzlich orchestriert wurde der Schlag durch eine Äusserung des russischen Aussenministers Lawrow des Inhalts, ein dritter Weltkrieg liege im Bereich des Denkbaren. Dass Lawrow einen Tag später nachschob, Russland visiere keinen Atomschlag an, milderte die Aussage kaum – die Welt hat in den mehr als zwei Kriegsmonaten noch und noch erfahren, dass Sätze aus dem inneren Kreis der Kreml-Macht zur Makulatur werden können, noch ehe sie medial verhallt sind.
Ziemlich systematisch und beharrlich anderseits vertauschen die russischen Politiker (unterstützt durch Kommentare auf Rossia sewodnja und RIA novosti) Ursache und Wirkung, Täter und Opfer. Nicht Russland befinde sich im Konflikt mit der Nato, sagte Lawrow, sondern die Nato mit Russland.
Direkte Konfrontation zwischen Russland und der Nato?
Nun, vorerst trifft in direktem Sinn weder das Eine noch das Andere zu – aber die Frage drängt sich doch von Tag zu Tag dringlicher auf, ob man sich nicht eben doch dem Punkt einer direkten Konfrontation und damit der Ausweitung des Krieges nähere. Nun liefern immer mehr europäische Staaten schwere Waffen an die Ukraine, und die USA schnürten ein zusätzliches Hilfspaket im Umfang von 33 Milliarden Dollar (zusätzlich zu den bis jetzt schon etwa 14 Milliarden), davon 20 Milliarden für Rüstungsgüter. Das russische Militär will die in die Ukraine fahrenden Konvois angreifen – auf ukrainischem Territorium, lautet derzeit die Doktrin. Sind grenzüberschreitende Raketenangriffe nicht denkbar? Es braucht nicht viel an beabsichtigter oder unbeabsichtigter Fehl-Leitung.
Aus der Perspektive westlicher und ukrainischer Strategen befindet man sich in einem zeitlichen Wettlauf: Wenn es gelänge, die russischen Einheiten entscheidend zu schwächen, bevor Nachschub aus den Tiefen Russlands geliefert würde, müsste Wladimir Putin den Krieg beenden, lautet unausgesprochen der Konsens. Und was dann?
Unberechenbar, auf Revanche bedacht
Russland müsse auf Dauer so geschwächt werden, dass es nie mehr auf die Idee kommen könne, einen anderen Staat anzugreifen, sagte der US-amerikanische Verteidigungsminister. Nur: Wie stellt er, wie stellt sich die Biden-Administration das vor? Russland schwach (und gedemütigt), aber weiterhin im Besitz von Atomwaffen – und zwar nicht einer Bombe, sondern (das ist der jetzige Stand) von 6255 nuklearen Sprengköpfen? Quasi ein riesiges Nordkorea, eingegrenzt durch rigorose Sanktionen, isoliert von der übrigen Welt?
Das ist zwar denkbar, aber nicht realistisch. Schon das gegenwärtige «Welt-Barometer» zeigt: Nur rund 40 Staaten von 200 weltweit beteiligen sich an den Sanktionen, und China, wichtigstes Land zumindest auf der asiatischen Landmasse, tendiert ideologisch zugunsten von Putins Russland, ökonomische Interessen in Europa und den USA hin oder her. Die Führung in Peking äussert auch immer wieder die Meinung, es sei die Nato und es seien, als Führungsmacht der Nato, die USA, welche die Spannungen so weit hätten eskalieren lassen, dass Russland praktisch keine Alternative geblieben sei, als die Ukraine anzugreifen. Und gesetzt den Fall, der ganze Westen (plus Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland) würde Russland konsequent isolieren und Russland wäre wirtschaftlich nur noch ein (gedemütigter) Zwerg – wie würde sich dieses Land dann verhalten? Wir können nur vermuten: gewiss nicht friedliebend und «dozil», sondern zumindest in höchstem Grade unberechenbar. Und auf Revanche bedacht.
Ratlos
Das versetzt uns wohl alle in Ratlosigkeit. Der Philosoph Jürgen Habermas fasste das in einem Beitrag für die «Süddeutsche Zeitung» mit dem Eingeständnis zusammen, die jetzige Situation mache ratlos. Ja, geben wir es zu: So ist es. Wir wissen alle, dass «eigentlich» eines Tages mit Russland wieder Kontakte aufgenommen werden müssen, dass irgendwann Friede einkehren muss. Dass es jetzt nicht möglich ist, wissen wir. Auch, dass es jetzt keine Alternative gibt gegenüber massiver Hilfe für die um ihr nationales und oft auch ihr persönliches Überleben kämpfenden Menschen in der Ukraine – dafür sind Wladimir Putin und seine Leute im Kreml verantwortlich.
Aber auch das sollten wir beherzigen: Mit Deutschland gingen die damaligen Alliierten 1918 konsequent gnadenlos um – wohl zu recht, aber mit dem bekannten, verheerenden Resultat. 1945, nach dem Zweiten Weltkrieg, verfolgten die Alliierten eine andere Strategie, mit Erfolg. Nur: Da war Hitler Vergangenheit. Ob aber Putin nach einem Ende des Kriegs gegen die Ukraine keine Rolle mehr spielen wird, wissen wir nicht. Und auch nicht, ob allfällige Nachfolger im Kreml eine andere Politik verfolgen werden – oder würden.