Die Gerichte, zuerst das Verwaltungsgericht, dann das Verfassungsgericht, haben Mursi dazu gezwungen, die ägyptischen Wahlen aufzuschieben. Die ägyptische Wahlkommission hat diesen Schritt angekündigt, ohne zunächst einen neuen Termin für Wahlen ansetzen zu können.
Das Wahlgesetz steht in Frage
Der juristische Hebel, mit dem dies bewirkt wurde, war ein Urteil des Obersten Verwaltungsgerichtes, nach dem das Wahlgesetz zum zweiten Mal dem Obersten Verfassungsgericht unterbreitet werden müsse. Bei einem ersten Befund hatte das Verfassungsgericht 13 Artikel des Wahlgesetzes als nicht konform mit der Verfassung erklärt. Der ägyptische Senat, der zur Zeit provisorisch die Vollmachten eines nicht vorhandenen Parlamentes ausübt, hatte daraufhin die 13 beanstandeten Artikel neu formuliert. Doch er hatte es unterlassen, das reformierte Gesetz erneut dem Verfassungsgericht vorzulegen.
Dies war ein Fehler gewesen, den Mursi und seine Regierung nun schwer bezahlen müssen. Das Verfassungsgericht kann sich Zeit lassen, um zu entscheiden, ob die 13 beanstandeten und emendierten Artikel nun der Verfassung entsprechen oder nicht. Man weiss auch schon, dass es Möglichkeiten für das Gericht gibt, das berichtigte Gesetz erneut abzulehnen. Dies, weil die Frage der ungleichen Wahlkreise, die mehr Stimmen in städtischen Gebieten und weniger in ländlichen für die Wahl eines Abgeordneten erfordern, auch in der verbesserten Version des Wahlgesetzes nicht völlig gelöst zu sein scheint.
Blockierte Strategie der Muslimbrüder
Die Verschiebung des Wahltermins, zunächst auf unbestimmte Zeit, bedeutet, dass die gesamte politische Strategie der Muslimbrüder und Mursis in Frage gestellt ist. Sie beruhte darauf, rasch ein neues Parlament unter Dach und Fach zu bringen und dadurch wieder Ordnung in die zerrütteten wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse Ägyptens zu bringen.
Die Brüder hatten gute Aussichten, die Wahlen erneut zu gewinnen, weil die Oppositionskräfte der säkularen Parteien nach wie vor äusserst zersplittert sind und es bisher nur bewirkt haben, auf der Strasse eine Protest-Front gegen die Bruderschaft zu bilden, jedoch nicht ein gemeinsames Programm aufzustellen, geschweige denn sich auf die Wahlen hin politisch zusammenzuschliessen.
Zeitgewinn für die Opposition
Doch der Aufschub der Wahlen bietet ihnen nun eine neue Gelegenheit, sich ganz oder teilweise zu Parteiungen oder Parteienkoalitionen zusammenzufinden, die in der Lage sein könnten, die Wahlen mit mehr Erfolgsaussichten zu bestreiten. Umgekehrt wirkt der Zeitverlust sich zu Ungunsten der Brüder aus, die gegenwärtig die Regierungsverantwortung tragen.
Die Wirtschaft in freiem Fall
Dies in erster Linie wegen der Wirtschaftslage. Die Devisenreserven Ägyptens sind erschöpft. Aus diesem Grunde herrscht bereits jetzt Brennstoffmangel, das heisst es gibt zu wenig Benzin und Diesel für den Transport und die Landwirtschaft und zu wenig Kochgas für die Haushalte sowie landesweit Stromausfälle. Am Horizont droht Brotmangel.
Es besteht bereits ein Schwarzmarkt für Treibstoff. Die Preise steigen, auch und gerade die Preise für Grundnahrungsmittel. Das ägyptische Pfund verliert Wert gegenüber dem Dollar, was die Preise noch weiter hochtreiben wird.
Ausbleiben der Rettung durch den IMF
Die Regierung hatte damit gerechnet, dass sie bald den seit Monaten erwarteten 4,8 Milliarden Kredit des IMF erhalten könnte. Dieser hätte nicht nur Löcher im Staatshaushalt zu schliessen, von ihm wurde auch erhofft, er werde ein Signal für die privaten Anleger im Ausland setzen und ihnen bedeuten, dass Ägypten kreditwürdig sei. Der IMF-Kredit jedoch war davon abhängig, dass - über die Wahlen - eine politische Beruhigung eintrete. Diese Erwartungen sind nun in Frage gestellt.
Die Politik der Misere
Die kausale Verbindung von Wirtschaftsmisere und politischer Unzufriedenheit wird direkter. Das heisst, das Verhalten von immer mehr Menschenmassen wird durch die Wirtschaftsmisere bestimmt, nicht mehr durch politische Versprechen und ideologische Verheissungen der politischen Führer.
Die Kritik an den herrschenden Zuständen richtet sich natürlich primär gegen die gegenwärtig politischen Verantwortlichen, umso mehr als deren Legitimität von einem grossen Teil der Bevölkerung, grosso modo von ihrer "säkularistischen" Hälfte, ohnehin abgestritten wird.
Zeitverlust wirkt gegen die Brüder
Ein Parlament, das aus einem erneuten Wahlsieg der Brüder hervorginge, würde ihre Legitimität wieder stärken. Wenn die Wahlen aufgeschoben werden, wird sie weiter noch geschwächt - je länger der Aufschub dauert, umso mehr.
Die Macht der Gerichte
Den Aufschub nach Möglichkeit zu verkürzen, muss nun das Ziel der Regierung sein. Falls die Richter politisch wirken wollten, müssten sie dafür sorgen, dass der Aufschub andauert. Man darf als Aussenstehender den Richtern diese Art von Parteinahme nicht vorwerfen. Allerdings muss man anmerken, dass sie bis jetzt immer wieder zu Gunsten der Kräfte entschieden haben, die eine Alternative zur Macht der Muslimbrüder zu bilden versprachen.
Es dürfte unter den Richtern vermutlich sehr unterschiedliche Meinungen über das weitere Vorgehen geben. Wahrscheinlich würde es genügen, dass einige von ihnen, etwa durch verschiedene Rechtskniffe, dafür sorgten, dass ein Beschluss über das weitere Vorgehen hinausgezögert würde, um das gegenwärtige Chaos zu vermehren und es möglicherweise ins Unwiederbringliche zu steigern.
Es besteht auch die Möglichkeit, dass das Verfassungsgericht ein Urteil ausspricht, das weitere Korrekturen des Wahlgesetzes verlangt, die es dann natürlich auch wieder zu begutachten haben würde. Und es ist denkbar, dass in dem organisatorisch schwierigen Bereich der Festlegung von Wahlkreisen nach dem Befinden der Richter dermassen einschneidende Neubestimmungen gefordert würden, dass die Wahlen so rasch gar nicht mehr organisierbar würden.
Es geht um die Zukunft der Demokratie
Wie lange Zeit vergehen müsste, um Wahlen zu verunmöglichen, weil das Land allzu unruhig und die Sicherheitslage unhaltbar würde, kann man nicht vorausbestimmen. Doch als Faktum muss gelten, je länger die gegenwärtige Unbestimmtheit andauert, desto weniger realistisch werden die Aussichten für ein funktionierendes demokratisches System.
Man muss auch in Rechnung stellen, dass ein Zusammenbrechen der Sicherheitslage die Armee höchstwahrscheinlich zum Eingreifen zwingen würde. Ihr würde es dann - erneut - auferlegt, die Zukunft Ägyptens zu bestimmen.
Ohne den höchsten Richtern Ägyptens zu nahe zu treten, kann man vermuten, dass es unter ihnen (die meisten haben ihre Karriere unter Mubarak zurückgelegt) einige geben dürfte, denen ein Regiment der Militärs lieber wäre als eines der - früher von ihnen und ihresgleichen zu langjährigen Haftstrafen verurteilten - Muslimbrüder.