A. R. Penck (1939-2017) hat die Teilung Deutschlands paradigmatisch gelebt und künstlerisch umgesetzt. In Mendrisio gibt es eine Retrospektive zu sehen
«Im Moment des Überganges geschieht wirklich etwas sehr Merkwürdiges. Die Gedanken und Gefühle spalten sich auf. Eben noch im Osten, jetzt schon im Westen. Wir im Osten, die im Westen, wir im Westen, die im Osten, die im Westen, die im Osten, wir im Westen, wir im Osten, von einem System ins andere. Ist es ein anderes System? Wie anders? Warum bin ich bis hierhergekommen? Es führt kein Weg zurück! Die Zeit bleibt stehen und geht gleichzeitig weiter. Das ist die neue Identität. Ich fiel zurück in meine Kindheit und zugleich in die Welt von science-fiction.»
Das sagte A. R. Penck 1981. Ein Jahr zuvor, am 3. August 1980, verliess er an der «Grenzübergangsstelle» Bebra als Ausgebürgerter die DDR und übersiedelte nach Köln. Hier hatte er, gefördert vom Galeristen Michael Werner, schon zuvor Erfolg, hatte seit den späten Sechzigern Ausstellungen und Verkäufe. 1972 waren seine Werke an Szeemanns documenta 5 zu sehen. 1975 zeigte ihn Johannes Gachnang in der Kunsthalle Bern. Im Westen war er ein arrivierter Künstler. Doch in seiner Geburtsstadt Dresden, wo sich der Frühreife, fast ein Wunderkind, mehrfach um einen Ausbildungsplatz bewarb, aber stets abgewiesen wurde, gehörte der wilde «Ost-Punker» samt dem Kreis seiner avantgardistischen Künstlerfreunde zum vom Regime mit Argusaugen bespitzelten kulturellen Untergrund. Penck war Autodidakt und blieb skeptisch gegenüber jedem Akademismus von Staates Gnaden. Er und seine Freunde pflegten auch ein spontanes, anarchisch anmutendes Musizieren als Ausdruck ihrer freien Kreativität.
Zwischen Stuhl und Bank
Nach A. R. Pencks Ausbürgerung und seinem Wechsel in den Westen mehrten sich die Erfolge. Er war vertreten in bedeutenden internationalen Übersichtsausstellungen wie «Zeitgeist» (Berlin 1982), «Von hier aus» (Düsseldorf 1984) und «Bilderstreit» (Köln 1989). 1984 gestaltete er – zusammen mit Lothar Baumgarten – den deutschen Biennale-Pavillon in Venedig. Ausstellungen in ganz Europa häuften sich. 1988 gab es eine grosse, gemeinsam mit der Berliner Nationalgalerie erarbeitete Retrospektive im Kunsthaus Zürich. Er erhielt bedeutende Preise und wurde Professor für Malerei an der Akademie Düsseldorf. Trotz alledem wurde Penck im Westen kaum heimisch. Er blieb Emigrant, fühlte sich als Emigrant, auch in London, wohin er bald übersiedelte, und in Irland, wo er bis zu seinem Tod 2017 lebte.
Ralf Winkler, so sein richtiger Name, kämpfte nicht als Antikommunist gegen den DDR-Staat. Er war vielmehr der Überzeugung, dass dieser Staat in sturer Ideologie versteinere und sozialistische Freiheiten mit Füssen trete. Ihm blieb aber folgerichtig auch der Kapitalismus suspekt. Und so geriet er buchstäblich zwischen Stuhl und Bank – heimatlos in höchst prekärer Lage.
Bereits 1963 schilderte er als Maler diese Situation: «Übergang» ist der Titel eines Bildes, das jedermann auf seine Weise verstehen kann. Ein schmales Brett führt über eine Schlucht. Darüber torkelt, mit weit ausgebreiteten Armen balancierend, eines seiner berühmten Strichmännchen. Im Abgrund lodern Flammen. Sie erfassen bereits das Brett. Die Strichmännchen, die oft monumentale Grösse erreichen und an Höhlenmalereien oder Kinderzeichnungen erinnern, sind sein schon in den 1960er Jahren entwickeltes Markenzeichen: Penck wollte, dass alle seine Kunst verstehen. Er suchte im Fundus der globalen Bildwelten nach Elementen einer universellen Sprache der Kunst und fand sie in den Höhlenmalereien, aber auch bei den Menschenbildern der Etrusker oder bei Alberto Giacometti.
Widerspruch
«Übergang» ist ein gutes Beispiel für die Allgemeinverständlichkeit der von Penck verwendeten Zeichen, aber auch für die Komplexität der Wirklichkeit, die er schildern wollte – wie jene des zweigeteilten Deutschland mit den beiden Gesellschaftssystemen, die ihm beide nicht geheuer waren. Er suchte nach fast unendlich vielen Variationen der Zeichen. Neben den Strichmännchen sind es Pfeile, an Verkehrszeichen erinnernde Hinweise, Plus- und Minus-Zeichen, Vögel, Schlangen und andere Kriechtiere, Spiralen, kristalline Gebilde, Kreuze. Und er erprobte alle sich anbietenden Kombinationsmöglichkeiten. So entstanden die «Systembilder» und «Weltbilder», in denen er nach gesellschaftlich-politischen Mechanismen fragte.
In diesen Bildern klafft ein Zwiespalt: Einerseits sind sie rationalem, wissenschaftlichem Systemdenken verpflichtet und wirken wie eine Vorwegnahme digitaler Kunstsprachen. (Eine Malerei von 1968 trägt den auch den Titel «Primitive Computer»). Andererseits sind Pencks Malereien hoch emotional in ihrer konkreten Ausführung mit dem expressiv geführten Pinsel, in ihrer radikalen Reduktion der Formen und in der Beschränkung auf wenige Farben, meist schwarz und rot. Dass Penck oft als Vorläufer der «Jungen Wilden» der 1980er Jahre apostrophiert wird, ist vielleicht ein Missverständnis: «Wild» drang er allenfalls mit dem Pinsel auf die Leinwand ein. «Wild» war wohl auch seine Musik. Im gedanklichen Hintergrund aber suchte er nach einer ordnenden Beschreibung der Realität.
Galerie- und Privatbesitz
Das erwähnte Bild «Übergang» von 1963 ist in der von Simone Soldini kuratierten Ausstellung in Mendrisio nicht zu sehen. Es befindet sich im Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen. Auch andere Schlüsselwerk wie «Weltbild» von 1963 oder «Ost–West» von 1981 sind nicht in Mendrisio. Sie gehören dem Kunsthaus Zürich oder der Tate in London. Manche der signifikantesten Werke des Künstlers haben eben längst den Weg in die grossen Museen gefunden.
Die in Mendrisio gezeigten Werke Pencks stammen aber vor allem aus den Beständen der Galerie Michael Werner – sie zeigte Penck seit 1969 regelmässig – sowie aus privaten Sammlungen. Das führt dazu, dass Bekanntestes fehlt, dass man auf der anderen Seite aber Seltenes zu sehen bekommt. Ein Beispiel ist das über zehn Meter lange «Weltbild» mit dem Titel «Schlachtfeld» von 1988, welches das ganze Zeichen-Arsenal Pencks in einer Weltuntergangsstimmung vereint, ein anderes das 2001 entstandene Werk «Situation ganz ohne Schwarz», eine veritable Farborgie. Neben Malereien sind das auch Skulpturen – ein wichtiger Teil des Gesamtwerkes. Sie sind, so der Kunsthistoriker Ulf Jensen von der Humboldt-Universität Berlin, «aus dem Geist der Musik entstanden. Free Jazz und Schlagzeug haben den Rhythmus als zugleich körperliches als auch räumliches Prinzip ins Spiel gebracht». Dann sind es vor allem die Künstlerbücher, die Penck in grosser Zahl mit fast manisch anmutender Energie mit Zeichnungen, Notizen und Bildern füllte und die einen spannenden Einblick in seine Schaffensprozesse gestatten. Sie werden in den Museumsräumen in Mendrisio auf ideale Weise präsentiert.
Was bleibt?
Was bleibt heute noch, nachdem es diese beiden Systeme, zwischen denen A. R. Penck keine Heimat fand, nicht mehr gibt? Hat seine Kunst den Sinn verloren? Kaum. Die Beschreibung gesellschaftlicher Systeme ist, wenn auch teils aus der Mode gekommen, weiterhin ein gewichtiges Arbeitsfeld der Kunst. Auch die Verwendung einer Zeichensprache, die Gegensätzliches zum Ausdruck zu bringen vermag und sich zur Vieldeutigkeit der Wahrnehmung bekennt, hat nicht ausgedient. Vor allem ist A. R. Penck weiterhin ein Beispiel für einen eindrücklichen Aufbruch von umfassender Kreativität, die sich nährt aus gesellschaftlichen Widersprüchen, denen sich der Künstler ausgesetzt sieht.
Bleibt wohl noch eine Anmerkung zum Pseudonym Ralf Winklers, zu A. R. Penck. Hinter dem Namen steht der aus der Region Leipzig stammende Geologe und Geograph Albrecht Penck (1858–1945), bahnbrechender Eiszeitforscher und für Ralf Winkler ein Paradigma für das präzise objektive Beobachten und Schildern der Realität. Ob der Künstler wusste, was das Österreichische Biographische Lexikon in seiner Online-Ausgabe über ihn schreibt? Da steht: «(Albrecht) Penck öffnete die Geographie massgeblich für die deutschvölkische Kulturraumforschung: Deren Leitbegriffe Volk, Boden und Blut stützten wesentlich die Tendenzen deutscher Revisionspolitik und verwiesen bereits auf den aggressiven Expansionismus des Dritten Reichs.» Ich nehme an, das war Penck unbekannt, als er Penck zu seinem Pseudonym machte.
Bis 13.02.2022
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