Fünf junge Frauen tanzen und singen auf dem Sand: schwarze Haare, braungebrannt. Sie tragen rote, grüne und weisse Bikinis - die italienischen Farben. Männer bilden einen Kreis um sie. Sie klatschen und singen mit. „Der Sommer ist Freiheit“. So heisst ein Sommerhit.
Es ist kein Durchkommen, hier am Strand von Capalbio, südlich von Porto Santo Stefano. Tausende drängen sich auf dem Sand. Schon morgens um neun war das letzte Liegebett besetzt oder reserviert.
Und überall: „L’estate è libertà, l’estate adosso“. Dutzende grölen den Song von Jovanotti.
Zuwachsraten von 30 Prozent
Seit Jahren heisst es, die Italiener hätten kein Geld mehr, um in die Ferien zu fahren. Und jetzt dies.
Das letzte Jahr war für den italienischen Tourismus ein Desaster. Nicht nur wegen des kühlen und regnerischen Wetters. Die Stimmung im Land war gedrückt. Man hatte Angst vor der Zukunft. Viele konnten und wollten sich keine Ferien leisten.
Jetzt melden die Badeorte gigantische Zuwachsraten. In Sizilien und Kampanien werden 30 Prozent mehr Badegäste gezählt als im letzten Jahr, in der Toskana, in Ligurien, Apulien und den Abruzzen 25 Prozent mehr, in Kalabrien, Lazio, den Marken und Sardinien 20 Prozent mehr.
Basta! Krise hin oder her!
Was ist der Grund für diese neue Völkerwanderung ans Meer? Ist es nur die gegenwärtige afrikanische Hitze, die die achttausend Kilometer lange italienische Küste mit Badenden überflutet? Man kann nur spekulieren.
Nach bleiernen Jahren der Krise und dem täglich verbreiteten Horror haben die Italiener vielleicht genug, den Kopf hängen zu lassen. Zwar ist die Krise noch längst nicht vorbei, doch man sagt sich: Basta! Krise hin oder her! Das Leben ist zu kurz, um nur zu lamentieren. Geniessen wir, was zu geniessen ist. Auf ans Meer, dorthin, wo Italien in den 60er, 70er und 80er Jahren glücklich war!
Der Strand – ein magischer Ort
Mit dem neu dekretierten Optimismus macht man sich bewusst etwas vor. Doch ist das immer noch besser, als täglich in der Zeitung zu lesen, dass das Land nun doch nicht vorwärts kommt, dass die Jugendarbeitslosigkeit auf 44 Prozent gestiegen ist, dass der Süden völlig verarmt. Ministerpräsident Renzi ist zwar weniger beliebt als auch schon, doch immerhin steht er für ein neues, modernes Italien.
Der Strand ist in Italien seit jeher ein magischer Ort. Männer und Frauen treffen sich hier am Abend, gehen auf und ab und erzählen sich das Leben – auch im Winter. Der Strand als sozialer Mittelpunkt.
Laufsteg für belle ragazze
Einen Aufschwung erlebte das Strandleben Ende der Fünfzigerjahre. Italien begann sich vom Krieg zu erholen. Man wollte vergessen und das Leben geniessen. Das tat man vor allem am Strand: Musik, Gelati. Und vor allem chiacchierare: schwatzen und schwatzen.
Immer mehr entwickelten sich die Strände zu einem Laufsteg für belle ragazze, die ihre Reize demonstrierten. Unermüdlich gingen sie auf dem Strand auf und abwärts. Und da waren die gutgebauten Jungs mit Goldkettchen, Brillantine und dem unwiderstehlichen Blick.
Kontaktbörse Strand
Hier ist der einzige Platz, wo man schon in den Nachkriegsjahren den gestrengen Blicken der Eltern entfliehen konnte. Hier gelang es, den kirchlichen Moralforderungen ein Schnippchen zu schlagen. Der Strand als Kontaktbörse. Das ist noch heute so.
Und da viele Italiener, auch 30- und 40-Jährige, noch immer im Hotel Mamma wohnen, können sie ihre Angebeteten nicht nach Hause nehmen. Bleibt der Strand.
„Sono un italiano vero“
Der Strand, ein Ort des „Hedonismus der 80er Jahre“, wie der Corriere della sera schreibt. Lebensfreude, Optimismus, Pingpong, Juke Boxes und Schlager wie „Sapore di mare“, „Abbronzatissima“. Und Toto Cotugno : „Lasciatemi cantare, perché ne sono fiero, sono un italiano, un italiano vero." Stolz, Italiener zu sein.
Das sind heute nicht mehr alle. Unter Berlusconi rutschte das Land in die Lethargie. Doch jetzt: fertig Pessimismus, zumindest für einige Tage. Noch heute gehen die ragazze am Strand auf und ab. Juke Boxes gibt es keine mehr. Dafür plärrt es aus den Ohrknöpfen der Smartphones. Auch Pingpong und Tischfussball spielt kaum noch jemand. Dafür brüllt man ins Handy. Doch die Italiener stört es nicht, wenn die Frau auf dem Liegebett nebenan sich in voller Lautstärke über die Unterleibskrankheit von zia Simona oder den Hautausschlag von nipote Gianfranco auslässt.
Glücklich nur in Massen
Vieles ist noch immer wie früher. Alle sind sie wieder da, die Ballonverkäufer, die Gummi-Enten-Verkäufer, die Gelati-Verkäufer, die vu cumpra. Die Sonnenbrillen, die sie verkaufen, werden immer grösser. Die Bikinis, die sie anbieten, sind jetzt umhüllt mit durchsichtigen volants. Und Elefantenhosen sind wieder en vogue.
Glücklich waren die Italiener schon immer nur in Massen. Sie lassen sich tragen von der Menge, dem Stimmengewirr, den canzoni. Wenn ein Italiener die Wahl zwischen einem überfüllten und einem leeren Strand hat, geht er auf den überfüllten. Der nördliche Traum von einsamen Buchten kennen die Italiener nicht.
50 Euro pro Tag für zwei Liegebetten
Auch Ausländer kommen wieder in Scharen: Neu auch Chinesen, aber auch Amerikaner, Engländer, Deutsche und Schweizer. Und natürlich steigen überall die Preise. Für zwei lettini (Liegebetten) mit Sonnenschirm zahlt man an chicen Orten bis zu 50 Euro pro Tag. Der Parkplatz kostet dann weitere 30. Freie Strände gibt es immer weniger. Sie befinden sich oft in einem ungepflegten Zustand.
Da räkeln sich die Ferienhungrigen an der Sonne – oft nur einige hundert Meter von jenen Stränden entfernt, auf denen die Migranten aus Libyen ankommen: jene, die überlebt haben und die Toten. Zwischen Catania und Augusta auf Sizilien stranden fast täglich mehrere Hundert.
Schönheitswettbewerbe am Strand
Die Betreiber der Badestrände fördern die neue Ferienlust der Italiener. Da wird gefestet, gesungen und getanzt. Es gibt die Sagra degli Gnocchi, die Sagra della Pizza, Modeschauen, Schönheitswettbewerbe, Gesangswettbewerbe, Kinder-Geburtstagsfeiern, Kinder-Modeschauen, Freiluftkinos und sogar Literaturlesungen. Und die Discotheken unweit der Strände sind voll.
Das wird so bleiben bis Ende August. Ein Ende der Hitzewelle ist nicht in Sicht. Die Meteorologen prophezeien für die nächste Zeit Temperaturen um die 36 Grad. In Cagliari auf Sardinien war es am Mittwoch 40 Grad warm. Im Tyrrhenischen Meer ist das Wasser bis zu 35 Grad warm. Das mag viele freuen, führt aber zum Tod von Tonnen von Fischen, Muscheln und Seeigeln. Zudem vermehren sich Algen und Quallen.
Acht Tage Ferien pro Jahr
Laut einer am Mittwoch vom italienischen Hotelverband (Federalberghi) veröffentlichten Bilanz, gehen dieses Jahr 30,4 Millionen Italiener in die Ferien. Das ist die Hälfte der Bevölkerung. Doch längere Ferien können sich die wenigsten leisten. Im Durchschnitt verreisen die Italiener für acht Tage, im letzten Jahr waren es noch neun Tage.
Der neue Drang ans Meer freut zwar Bernabò Bocca, den Präsidenten des Hotelverbandes. Er weist jedoch darauf hin, dass Grossinvestitionen nötig wären. Viele Badeanlagen und Strandbetriebe sind völlig veraltet und verrottet mit zum Teil abenteuerlichen sanitären Anlagen.
Balsam für Süditalien
Über 80 Prozent der Italiener bleiben für die Ferien im eigenen Land. Die meisten zieht es in den Süden des Belpaese. Dort ist es am billigsteb. Das bringt dem gebeutelten Mezzogiorno (siehe Journal21: „Dies ist kein zivilisiertes Land“) zumindest ein wenig Einkommen.
Der Exodus an die Strände führt da und dort zu einem höllischen Verkehrschaos. An Wochenenden sind jetzt 20 Millionen Italiener auf der Strasse.
... der muss verrückt sein
Viele gehen nicht mehr am Stück in die Ferien, sondern zwei, drei Mal je drei, vier Tage - vor allem an Wochenenden. Aber ans Meer muss man: Wer im August nicht mindestens ein Mal im Meer badet, ist kein Italiener.
Heilig ist noch immer der Ferragosto, der 15. August. Wer dann einen Platz am Meer sucht, muss verrückt sein – oder Italiener.