Der Wanderer macht sich im Umland Zürichs auf zu zwei Erhebungen, die schweizerischen Alltag repräsentieren. Die eine geniesst breite Bekanntheit aus täglichen Verkehrsmeldungen, die andere ist in der Region ein Geheimtipp unter wanderfreudigen Geniessern.
Was ist des Schweizers populärster Berg? – Nein, ich meine nicht das Matterhorn, auch nicht Eiger, Jungfrau, Bernina, Rigi oder Säntis. Populär gemessen an seiner Medienpräsenz. Die Antwort ist banal: Der Gubrist, der westlich von Zürich das Limmat- vom Furttal trennt. Die zwei Röhren, welche ihn durchbohren – bald werden es drei sein – haben ihren täglichen Auftritt in den Verkehrsmeldungen am Radio, vor allem abends, aber manchmal auch schon am Morgen und Mittag.
Sie werden jetzt vielleicht einwenden, der Gubrist sei doch kein Berg. Mit seiner Höhe von 615 Metern wäre er es allenfalls in Holland, aber sicher nicht in der Schweiz. Er sei bestenfalls ein Hügelzug. Aber so rasch wird sich der Gubrist seinen Status nicht nehmen lassen. Immerhin gibt es weiter westlich, zur gleichen «Bergkette» gehörend, eine Erhebung, welche die Bezeichnung «Berg» in ihrem Namen trägt, den Altberg, 632 Meter hoch und mit dem Gubrist durch einen Gratweg (!) verbunden – so steht es jedenfalls auf der Landeskarte. Der Altberg ist allerdings weniger bei den Automobilisten bekannt als bei den Wanderern, insbesondere bei den wandernden Fondue-Liebhabern. Doch davon später.
Heute will ich sie endlich kennenlernen, den Tunnel- und den Fondueberg. Am Bahnhofquai beim Zürcher Hauptbahnhof wartet der 46er Trolleybus. Er bringt mich in einer halben Stunde in ein Quartier, welches vielen Zücherinnen und Zürchern gar nicht oder nur vom Hörensagen bekannt sein dürfte. Vor genau sechzig Jahren (1963) wurde das bisher zur Landwirtschaftszone gehörende Gebiet Rütihof – nordöstlich des alten Zentrums von Höngg und nahe der Stadtgrenze gelegen – zu Bauland. Bis mit der Grossüberbauung begonnen wurde, vergingen allerdings fast zwanzig Jahre. Zwischen 1980 und 2000 entstand dort schliesslich ein neues Quartier für rund 4000 Menschen.
An der Haltestelle Geeringstrasse steige ich aus, wandere am Rande der Überbauung zur Regensdorferstrasse und fliehe beim Restaurant Grünwald vom Verkehrslärm in den Wald.
In Klammern Folgendes: Als ich mich später zuhause hinter meinen Beitrag für das Journal 21 mache, lese ich im Internet, die Strasse verdanke ihren Namen der Familie Geering, welche seit 1586 und bis in die jüngste Vergangenheit den grössten Teil des Landes am Rütihof bewirtschaftet habe. Ferner erfahre ich, die Bautätigkeit beim Rütihof würde bis heute die Gemüter erhitzen, Stoff für eine eigene Geschichte, in der man sich verlieren könnte. Da bleibt nur eines, mich von den Verführungen des Internets loszureissen und mich wieder meinem ursprünglichen Plan zuzuwenden, über die Geschichte zweier Berge unterschiedlicher Berühmtheit zu berichten.
Der Weg von der Wirtschaft Grünwald – hier möchte man im Sommer unter den Bäumen ein kühles Bier trinken – zum Gubrist ist kurz, der Höhenunterschied nur etwa 60 Meter. An der grossen Wegkreuzung bei Glaubeneich steht eine Waldhütte mit überdachten Picknickplätzen, davor eine Holzskulptur, von welcher mich Reh und Waldkauz treuherzig beäugen. Nicht ganz sicher bin ich bei der zoologischen Zuordnung eines kleinen Säugers, der links am Stamm in die Welt schaut. Ist es ein Marder, ein Eichhörnchen oder eine Neuschöpfung der Schnitzerin oder des Schnitzers?
A propos Picknickplatz: Wir alle haben sie schon kennengelernt, die vielfältigen Versuche, an solchen Orten den Gästen – in Prosa oder Versform, didaktisch subtil oder eher mit dem Holzhammer – Ordnung und Sauberkeit ans Herz zu legen. Hier begegne ich einer neuen Variante, eigentlich gut gelungen, abgesehen vom abrupten Wechsel vom Siezen ins Ihrzen auf der dritten Zeile:
Sitzed Sie, hocked Sie, nämed Sie Platz,
Seis mit de Chind, seis mit em Schatz.
Doch dänked, und bin ich au nur us Holz:
Suuber z’bliibe, das isch min Stolz.
Beim Weitergehen sucht mein Gehirn, ich kann es nicht davon abhalten, nach einer passenderen dritten Zeile. Doch bevor ich ins Grübeln gerate, nimmt ein anderes Produkt menschlicher Bau- und Sprachkunst meine Aufmerksamkeit in Anspruch, ein unförmiger Turm auf einem grossen Betongebäude in einem eingezäunten Areal, ohne Erklärung über Sinn und Zweck des Ganzen, wie sie heute bei jeder Baustelle normal ist. Eine moderne Rittterburg? Nicht gerade eine architektonische Meisterleistung. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass der Koloss direkt über dem Gubrist-Strassentunnel steht. Also wird hier, so vermute ich, der Berg den giftigen Atem seiner Autobahntunnel in die Natur ausstossen.
Doch wo bleibt der Gubrist-Berg? – Fast hätte ich ihn verpasst. Nur wenige hundert Meter weiter westlich verkündet ein gelber Wegweiser den ersten Gipfel meiner Wanderung, zwar nicht ganz am höchsten Punkt (der wäre beim Höhenpunkt 615 Meter über Meer, wo eine Antenne steht), aber doch so nahe, dass ich in meiner persönlichen Gipfelchronik den Gubrist als bestiegen abhaken kann.
Beim Weitergehen wird mir schmerzlich bewusst, dass die Gipfelform des Gubrist leider nicht ganz so markant ist wie diejenige seiner Konkurrenten (Matterhorn & Co.), doch immerhin gilt auch für ihn die eiserne Regel, die jeder Wanderer aus eigener Erfahrung kennt:
Auf dem Gipfel wird man munter,
denn von hier geht’s nur noch runter.
Zwischen den beiden «Bergen» liegt der Sattel des Folenmoos, über welchen die Strasse von Weiningen nach Regensdorf führt. Ich überquere sie bei Ämet etwas westlich von der Passhöhe, gehe auf dem Wanderweg der südlichen Bergflanke entlang und erreiche den Grat kurz nach dem höchsten Punkt des Altbergs (632 Meter). Der Gratweg selber sei unterdessen zum Biker-Territorium geworden und daher ziemlich zerfurcht und schlammig, hat mich ein Freund gewarnt, der die Gegend bestens kennt.
Etwa anderthalb Stunden nach dem Abmarsch im Rütihof bin ich beim Aussichtsturm. Zwischen den Bäumen wird auch schon die Waldschenke sichtbar. Der Turm kann warten, sage ich mir. Die Gaststube ist voll. Fondue-Geruch schlägt mir entgegen. Ich finde ein letztes Tischchen und bestelle Wienerli mit Brot und einen Roten dazu. An den anderen Tischen drängen sich die Gäste um ihre Caquelons. Wirt und Wirtin beobachten von der Theke aus die Tische mit Sperberaugen, erspähen sofort jedes leere Glas und jeden leeren Brotkorb, offerieren Nachschub und räumen überzähliges Geschirr ab. Man kann nur staunen: zwanzig oder mehr Fondue-Esser, an einem ganz gewöhnlichen Werktag in einer Wirtschaft, welche nur zu Fuss erreichbar ist!
Als ich wieder ins Freie trete, scheint mich der Aussichtsturm vorwurfsvoll anzuschauen. Mit leicht schlechtem Gewissen lenkt der Zwinglianer in mir seine Schritte zum Treppenfuss. Beim Aufstieg melden meine Beine, es wäre klüger gewesen, den 34 Meter hohen Turm ohne den Rotwein im Blut zu besteigen.
Doch der Blick übers Land entschädigt: im Süden das Limmattal mit den massigen Konsumtempeln von Spreitenbach, dahinter der Heitersberg (für den Zugfahrer das, was der Gubrist dem Automobilisten bedeutet), der ganz rechts in die Baregg übergeht, auch sie, wie der Gubrist, einst bekanntes Mobilitätshindernis. – Ist es nicht seltsam, dass wir Schweizer topografische Namen heute vor allem dann kennen, wenn sie ein Hindernis darstellen?
Aber noch stehe ich auf dem Altbergturm, schaue jetzt nach Norden zur Lägern, welche wie ein gigantisches Reptil daliegt, davor das Furttal und weiter hinten, bereits halb im Dunst wie der Schwarzwald, das untere Glatttal. Von Regensberg her schieben sich kantige Ungetüme ins Tal. So muss es während der Eiszeit ausgesehen haben, nur dass damals die «Walze» aus Eis statt aus Beton gewesen ist.
Weiter westlich dominiert noch immer das Grün, obschon auch hier das einst landwirtschaftlich geprägte Furttal durch Fremdkörper verändert worden ist, durch den Golfplatz Otelfingen zum Beispiel oder durch helle Flächen, welche auf den ersten Blick wie Seen aussehen, sich aber aus der Nähe als plastikbedeckte Gemüsebeete entpuppen.
Auf meiner Karte finde ich einen Weg, welcher der Falllinie entlang durch den Wald steil nach Dänikon hinunterführt. Auch diese Route ist offenbar bereits von den Bikern entdeckt worden, denn überall sind weiss-rote Plastikbänder über den Weg gespannt, welche die Velofahrer davon abhalten sollen, die Furchen im weichen Waldboden weiter zu vertiefen. Es scheint nicht viel zu nützen. Ich suche mir meinen eigenen Weg und erreiche bald die ersten Häuser von Dänikon.
Auch hier branden bereits die Zivilisationswellen gegen das einstige Bauerndorf, aber nicht mit jener Wucht, welche den Rütihof getroffen hat, sondern zaghafter und damit variationsreicher. Mehrfamilienhäuser stehen neben alten Bauernhäusern, dazwischen haben findige Gärtner ihr eigenes Paradies eingerichtet. An einem Pfosten prangt eine von Dali inspirierte Globifigur.
Jenseits des Furtbaches bin ich definitiv wieder in der Moderne angekommen. Die Menschen, welche ihre Ausrüstungen vom Parkplatz durch die Bahnunterführung zum Clubhaus des Golfplatzes Otelfingen schleppen, scheinen von einem anderen Planeten zu stammen als die Fondueesser in der Waldschenke auf dem Altberg. Vielleicht aber hängt es nur an der Ausstattung und wir sind alle längst multivalent geworden, können uns unterschiedlich verkleiden und so auf den verschiedensten gesellschaftlichen Bühnen tanzen.
Sicher ist uns eines gemeinsam, die Sehnsucht nach dem Wissen, irgendwo dazuzugehören, sei es in der Waldhütte, im Golfclub oder in der (scheinbaren) Einsamkeit des Waldes.