Die abenteuerlichsten Varianten dieser Theorien sehen in Bill Gates einen Urheber des Virus. Über das, was er damit genau bezwecken will, gibt es verschiedene Auskünfte. Die einen meinen, er wolle für die Verbreitung eines Anti-Corona-Impfstoffs sorgen, der gleichzeitig die fabelhafte Eigenschaft hat, die Geimpften auch mental gefügig zu machen. Vielleicht geht es ihm auch um die Errichtung der Weltherrschaft, oder er verfolgt zusammen mit anderen Verschwörern das Ziel, das Bargeld abzuschaffen. Ganz genau weiss man das nicht, aber für die Verschwörungstheoretiker steht fest, dass Bill Gates in jedem Falle die finstersten Absichten verfolgt.
Antisemitismus
Im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien fällt immer wieder der Name Rothschild, und insgesamt registrieren Beobachter mehr oder weniger antisemitische Tendenzen. In der Schweiz geistert ein gewisser Ivo Sasek herum, der sich in seinen Youtube-Botschaften auch auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ beruft. Das haben schon die Nazis getan, und jeder, der sich dafür interessiert, kann wissen, dass es sich dabei um eine Fälschung handelt.
Verschwörungstheorien werden nicht nur von Gruppen verbreitet, die man zum sozialen Bodensatz unserer Gesellschaft rechnen kann oder die zu esoterischen Zirkeln gehören. Für grosse Irritation hat ein „Aufruf für die Kirche und für die Welt“ gesorgt, der vor ein paar Tagen von hochrangigen Geistlichen der Katholischen Kirche veröffentlicht wurde. Darin wird die Gefährlichkeit des Corona-Virus bezweifelt. Entsprechend seien die ergriffenen Massnahmen „unverhältnismässig“, und nur der „Vorwand zur Unterstützung undurchsichtiger Absichten übernationaler Organisationen und Gruppen“. Dahinter könne, so die Autoren, nur die Absicht stecken, alle Bürger ihrer Freiheit zu berauben. „Diese illiberalen Massnahmen sind der beunruhigende Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht.“ Der prominenteste Unterzeichner dieser Erklärung ist der ehemalige Chef der Glaubenskongregation, Gerhard Kardinal Müller.
Uralte Motive
Erstaunlich an diesen Verschwörungstheorien sind die Elemente, aus denen sie zusammengesetzt werden. Zum Teil sind es Motive, die seit bald 2000 Jahren durch die Geschichte geistern, in erster Linie der Antisemitismus. Damit ist der Generalverdacht verbunden, unter dem das „Kapital“ steht. Auch hier sind die antisemitischen Wurzeln unverkennbar, wie der Name Rothschild nur allzu deutlich macht. Und dann gibt es irgendwelche finsteren Mächte, die nach den Seelen der Menschen und nach der Weltherrschaft greifen. Auch diese Vorstellung ist alt, sogar älter als das Christentum. Aber das Christentum hat sie, zumindest in seiner konservativen Ausprägung, bis heute höchst lebendig erhalten.
Das erklärt aber noch nicht die Anfälligkeit von Teilen der modernen Gesellschaft für diese Theorien. Ganz einfachen und schlichten Gemütern kann man zwar etwas zuschreiben, was man früher als Volksaberglauben bezeichnet hat. Dazu kommen manipulative Methoden, die speziell in den sozialen Netzwerken, auf Youtube oder auf den jeweiligen Versammlungen eingesetzt werden. Eine extreme Form ist das „Lovebombing“. Der Einzelne wird derartig mit Liebesbotschaften überflutet, dass er denjenigen, die ihn manipulieren wollen, hilflos ausgeliefert ist.
Unseriöses Auftreten
Aber jenseits der schlichten Gemüter gibt es ebenfalls eine Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Man ist immer wieder erstaunt, welche Empfehlungen von ansonsten ganz vernünftigen Zeitgenossen kommen. Da gibt es immer mal wieder Hinweise auf Daniele Ganser mit seinen Vorlesungen oder Heiko Schrang mit seinen privaten TV-Sendungen. Wer dafür ein Sensorium hat, merkt sofort am ganzen Habitus dieser Leute, dass da etwas nicht stimmen kann. Denn sie sprechen ihr Publikum wie eine verschworene Gemeinschaft an, die viel besser als die normalen Zeitgenossen begriffen hat, wie unsere Welt von finsteren Mächten manipuliert und aus dem Hintergrund gesteuert wird.
Das Fatale daran: Es ist ja nicht alles falsch, was sie sagen. So gibt es zum Beispiel in Bezug auf die Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auch ernst zu nehmende Rechtsexperten, die die Frage nach der Verhältnismässigkeit stellen. Und natürlich kann man darüber streiten, wie aussagekräftig die Statistiken sind, wenn zum Beispiel nur die Zahl der Neuinfektionen genannt wird, ohne gleichzeitig die Zahl der Tests zu nennen, die in diesem Zusammenhang gemacht worden sind. In einschlägigen Kreisen gibt es darüber eine heftige Auseinandersetzung im Netz. Da geraten dann Experten für Statistik hart aneinander, und der Laie wird immer ratloser.
Allerdings zeigen diese Auseinandersetzungen auch, dass Politiker, ihre Berater und nicht zuletzt die Virologen zum Teil im Dunkeln tappen. Und sie haben für ihre Entscheidungen und Massnahmen nicht beliebig viel Zeit. Dadurch entstehen Fehler. Verschwörungstheoretiker wittern hinter diesen Fehlern reflexartig finstere Absichten und sehen sich wieder einmal bestätigt.
Schwierige Unterscheidungen
Für unvoreingenommene Beobachter kann es sehr schwierig werden, zwischen Theorien, die Widersprüche und Ungereimtheiten aufdecken, und Verschwörungstheorien zu unterscheiden. Immer wieder hat es Fälle gegeben, in denen etwas als Verschwörungstheorie abgetan wurde und sich zuletzt als absolut zutreffend erwies. Das bis heute prominenteste Beispiel dafür sind die Pentagon-Papers. Aber es gibt Indizien, die weiterhelfen.
So konstruieren Verschwörungstheoretiker immer Zusammenhänge, die sich zu plausiblen Erzählungen verdichten. Hinter allem steckt eine Absicht, nichts entsteht ohne definierbare Ursache. Dieses Ursache-Wirkungs-Schema ist völlig überholt. Die Systemtheorie in der Soziologie und die Chaostheorie in den Naturwissenschaften – durchaus auch auf gesellschaftliche Vorgänge anzuwenden – sprengen dieses Denkmuster.
Sehnsucht nach Sinn
Weil Verschwörungstheoretiker dazu neigen, dort definierbare Akteure zu vermuten, wo es keine gibt, greifen sie zum Teil zu uralten Konstrukten. Da gibt es die jüdische Verschwörung oder die „Weltregierung“ wie in dem Papier aus der katholischen Kirche. Verschwörungstheorien enthalten immer einen Überschuss an Erklärung. Sie bieten dort eine geschlossene Erzählung an, wo sich bestenfalls Vermutungen anstellen lassen.
Damit entsprechen sie einem tief verwurzelten Bedürfnis des Menschen. Denn der Mensch verträgt nichts schlechter als den Zufall, aus dem sich kein Sinn formen lässt. Auch im Unglück sucht er ein benennbares Gegenüber. Das ist ein starkes Motiv für den Glauben an den Teufel – eine der ältesten Verschwörungstheorien. Viel besser ist es natürlich, in grösster Not an einen Retter glauben zu könne. „Bei einem Schiffsuntergang gibt es keine Atheisten“, lautet ein Bonmot.
Verschwörungstheorien erfüllen den Wunsch nach Erklärungen, wo es zumindest vorerst keine Erklärungen gibt. Sie bieten Halt in der Haltlosigkeit.