Bis vor kurzem war QAnon ein reines Internet-Phänomen, eine Bewegung, die seit vergangenem Oktober einem anonymen Autor namens Q folgt, der auf Nachrichtenforen im Internet in Form abgehackter Botschaften hochgeheime Informationen aus dem Innersten der US-Regierung preisgibt. Seine Anhänger, die Anons, nennen die Enthüllungen „Brotkrumen“, denen es zu folgen gilt, um die Wahrheit zu erfahren.
Q bleibt aus Sicherheitsgründen anonym, und niemand weiss, ob es ihn wirklich gibt und falls ja, wie ernst es ihm mit seinen Nachrichten ist. Q könnte genauso gut ein Witzbold mit Internet-Zugang sein, ein Troll, der sich in Verschwörungstheorien auskennt. Doch das hindert die Anons nicht daran, in Q einen Vertreter der Regierung Trump zu sehen und ihm zu glauben.
Einige Verschwörungstheoretiker glauben gar, Donald Trump selbst sei Q. Wobei der Buchstabe Q in den USA für eine Sicherheitsfreigabe („security clearance“) auf hoher Ebene steht. Und Q hiess der Tüftler des MI6, der für James Bond in dessen Filmen skurrile, aber tödliche Gadgets konstruierte.
Wiedergänger von JFK Jr.
Laut jüngsten Mutmassungen ist Q niemand anderer als John F. Kennedys Sohn „John John“, der 1999 bei einem Flugzeugabsturz vor der Küste von Martha’s Vineyard (Massachusetts) ums Leben gekommen ist. Dieser Theorie zufolge haben JFK Jr. und seine Frau Carolyn Bessette den Absturz überlebt und leben heute unter Pseudonym irgendwo in Amerika.
Der Grund für die verrückte Annahme? Donald Trumps Treffen mit Wladimir Putin in Helsinki am 16. Juli fiel auf den Todestag des Präsidentensohns. Es heisst auch, John F. Kennedy Jr. habe sogar Wahlkampfveranstaltungen Trumps besucht, verkleidet als Mann mittleren Alters mit Bart, wie er angeblich auf dem Foto eines Anlasses hinter dem Präsidenten zu sehen ist. Ein Computerprogramm, das Gesichter altern lässt, soll die Übereinstimmung beweisen. JFK Jr. wäre heute 57 Jahre alt.
Im April demonstrierten in Washington D. C. Hunderte von Qs Anhängern und forderten vom Justizministerium vage „Transparenz“. Es ging ihnen unter Umständen um die Untersuchung, die Sonderermittler Robert S. Mueller III zum Thema der Einmischung russischer Kreise in den Präsidentschaftswahlkampf 2016 führt. Diese Woche sind die Anons erneut öffentlich aufgetaucht, bei einer Veranstaltung Donald Trumps in Tampa (Florida), wo sie Journalisten vor den TV-Kameras mit gestrecktem Mittelfinger aufs Übelste beschimpften. „Fuck the Media“ stand da etwa zu lesen.
„CNN ist Scheisse“, skandierten Demonstranten in Tampa – sehr zur Freude von Trump-Sohn Eric, der umgehend ein Video des Protests auf Twitter stellte, und von Moderator Sean Hannity von Fox News. Hannity, ein Freund des Präsidenten, liess abends die Mainstream-Medien wissen, es gebe eben, Stichwort „Fake News“, einen guten Grund, weshalb die Bürgerinnen und Bürger Amerikas Journalisten anschrien. Eric Trumps Tweet „CNN Sucks“ verbreitete auch Vater Donald weiter.
Trump, oberster Verschwörungstheoretiker
Tech-Journalist Will Sommer hat für die Internet-Zeitung „The Daily Beast“ versucht, eine Stossrichtung der kryptischen Botschaften von Q zu skizzieren. Die Stossrichtung geht wie folgt: Alle Amtsinhaber vor Donald Trump waren „kriminelle Präsidenten“, die sich mit den üblichen Verdächtigen früherer Verschwörungstheorien eingelassen haben: mit der globalen Elite der Banker, den Todesschwadronen Hillary Clintons, den Geheimagenten des Deep State oder den Gruppen von Pädophilen und Kinderhändlern à la Pizzagate.
Um dem Würgegriff der Kabale zu entrinnen, habe das US-Militär Donald Trump überzeugt, 2016 für das höchste Amt im Staate zu kandidieren. Und nun seien der Präsident und dessen Verbündete in der Armee bereit, alle Übeltäter zu verhaften und etliche unter ihnen nach Guantanamo Bay zu verfrachten. Anons nennen diese Säuberungsaktion den „Sturm“, in Anspielung auf eine Bemerkung Donald Trumps, der sich im letzten Oktober mit hohen Offizieren ablichten liess und sagte: „Sie wissen, was das bedeutet? Vielleicht ist es die Ruhe vor dem Sturm.“
Zwar hat der Präsident die Aktivitäten der Bewegung QAnon bisher weder ausdrücklich gelobt noch verurteilt. Doch Donald Trump sind Verschwörungstheorien nicht ganz fremd: Er hat jahrelang behauptet, Barack Obama sei nicht in den Vereinigten Staaten geboren worden. Er hat ohne Beweise beteuert, sein Vorgänger im Weisse Haus habe im Trump Tower in New York Abhörgeräte installieren lassen. Und er gab sich überzeugt, dass Millionen von Stimmen illegaler Einwanderer ihn bei der Wahl 2016 das Volksmehr gekostet hätten.
Erklärung der Welt
Für Politikwissenschaftler Michael Barkun von der Syracuse University kommt die Bewegung QAnon nicht überraschend: „Solche Vorstellungen sterben nie aus. Sie werden von jeder Generation neu aufgenommen, und in Amerika drehen sich die eindringlichsten Vorstellungen von Verschwörung um einen Feind im Innern der Regierung, der die Fäden zieht, aber nicht entlarvt werden kann.“
Menschen, so Politologe Barkun, bräuchten Geschichten, die ihnen die Welt erklärten, und sie würden solche, falls sie nicht leicht zu finden sind, an merkwürdigen Orten suchen: „Das Ende des Kalten Krieges hat uns einer der besten Geschichten beraubt, die uns die Welt erklären, der Kampf zwischen der freien Welt und der Sowjetunion, die Ronald Reagan ‚das Reich des Bösen‘ nannte. Nichts hat bisher diese Geschichte ersetzen können.“
Über die Grösse der paranoiden Bewegung, die den Sprung vom Internet in die reale Welt geschafft hat, gibt es keine gesicherten Angaben. Eines ihrer Internetforen hat 49’000 Anhänger. Eine ihrer beliebtesten Facebook-Gruppen zählt 40’000 Mitglieder. Ein YouTube-Video von Q-Anhängern ist millionenfach angeklickt worden, derweil sich die Menge entsprechender Tweets nicht mehr zählen lässt. Im vergangenen April war eine App namens „QDrops“ unter den 10 am häufigsten heruntergeladenen Bezahl-Apps des Apple Store.
QAnon, „eine interaktive Verschwörungsgemeinschaft“ (so ein Forscher der Harvard Universität), fristet auf jeden Fall keine Randexistenz mehr: „Die grösste Gefahr ist der Umstand, dass wir eine mental instabile Person vom nächsten massiven Zwischenfall entfernt sind, der definiert, was immer als Nächstes geschieht.“