Pontida ist für 20 Prozent der Italiener ein magischer Ort. Das 3‘000-Einwohner-Nest zwischen Bergamo und Lecco ist für die Lega Nord etwa das, was für die Schweizer das Rütli ist. Hier hatten sich vor über 800 Jahren die Lombarden zusammengeschlossen und das Heer von Kaiser Barbarossa besiegt.
Jedes Jahr im Juni strömen Tausende Anhänger der fremdenfeindlichen Lega Nord nach Pontida und beschwören den Geist des Nordens. Viele möchten sich vom übrigen Italien abspalten. Sie beklagen, dass ihre Steuergelder im süditalienischen Sumpf verschwinden. Mit viel Pathos träumen sie von einem norditalienischen Staat: von Padania. Ihre inoffizielle Nationalhymne ist Verdis Gefangenenchor aus Nabucco: „Va, pensiero, sull'ali dorate“, Steig, Gedanke, auf goldenen Flügeln“.
Die Lega leidet unter Berlusconis kaputtem Image
An diesem Sonntag war es wieder so weit. Viele kamen in alten Trachten oder gar in Ritterrüstungen. Alte Fahnen mit dem Bildnis von Alberto di Guissano wurden geschwenkt. Guissano war der Sieger der Schlacht gegen Barbarossa. Doch diesmal war es den Lega-Treuen nicht um nostalgisches Gesäusel zumute. Sie erwarteten ein Ultimatum ihres Chefs, einen Dolchstoss vielleicht gar.
Die Lega ist die Koalitionspartnerin von Silvio Berlusconi. Ohne Lega hätte Berlusconi keine Mehrheit mehr im Parlament. Doch diese Treue zu Berlusconi bekommt der Lega gar nicht gut. Sie leidet unter dem kaputten Image des Ministerpräsidenten. Auf seinem Ritt den Berg hinunter zieht Berlusconi die Lega im Schlepptau mit sich.
Lange Zeit ging es mit der Bossi-Partei in den Meinungsumfragen nur aufwärts. Dann kam der Einbruch. Bei den jüngsten Kommunalwahlen hat die Lega in ihren Hochburgen fast hunderttausend Stimmen eingebüsst.
Seit langem mucksen die Leghisten auf. Vielen grausen sich ob der Bunga Bunga-Allüren des alternden Don Juans. Selbst Bossi sprach von „moralischen Verpflichtungen“ eines Regierungschefs. Vor allem aber stört die Lega, dass ihr Berlusconi politisch nicht im Geringsten entgegenkommt. Die Lega möchte Italien in einen dezentralisierten, föderalistischen Staat verwandeln, in dem die einzelnen Regionen starkes Gewicht haben und nicht mehr nach der Pfeife Roms tanzen müssen.
Vor allem aber will die Lega eine Steuerreform durchsetzen, die dazu führen soll, dass die Steuergelder nicht nach Süden abfliessen.
Doch Berlusconi palavert, macht der Lega Versprechen und hält sie dann doch nicht. Jetzt sind viele Leghisten mit ihrer Geduld am Ende. Sie wissen: Wenn sie Berlusconi weiterhin treu sind, geht es weiter mit ihnen bergab. Die Lega muss sich neu emanzipieren, um nicht nur als Steigbügelhalterin von Berlusconi zu gelten.
Von den Lega-Ministern in Berlusconis Regierung hörte man plötzlich böse Worte über den Regierungschef. Ostentativ hat Lega-Innenminister Maroni gegen Atomkraftwerke gestimmt – und damit gegen Berlusconi. Selbst Bossi geriet von seinen Parteifreunden unter Druck. „Gib nicht immer nach, zeige Zähne, blase Silvio endlich den Marsch“.
So war man denn heute gespannt, ob Bossi dies tun würde. Doch seinen Auftritt werten viele seiner Freunde als Trauerspiel. Zwar fielen die üblich provokativen Worte. Doch sie waren, wie Oppositionsführerin Rosy Bindi kommentiert, „hohl und in den Wind geredet“. „Sezession, Sezession“, schrie die Menge. Bossi antwortete: „Bereitet euch darauf vor“. Doch das war Rethorik, keiner glaubt mehr an Sezession.
Balsam für den Ministerpräsidenten
Den wichtigsten Satz, den Bossi sagte, war: « Caro Berlusconi, dein Amt als Premierminister steht bei den nächsten Wahlen zur Diskussion, wenn nicht mehrere Dinge geschehen ». Also: Verschnaufpause für Berlsconi, denn diese nächsten Wahlen finden in zwei Jahren statt. Im Klartext sagte Bossi: Wir lassen dich jetzt nicht fallen. Kein sofortiger Dolchstoss.
Mehr noch: Bossi betonte, er sei gegen vorgezogene Neuwahlen. Von solchen würde im gegenwärtigen Moment nur die Linke profitieren. Trotz Aufbegehren in der eigenen Partei, trotz Wahlniederlagen in der Lombardei: Bossi ist nicht bereit, Berlusconi fallen zu lassen. Enttäuschung machte sich auf der Wiese von Pontida breit.
Der Auftritt Bossis hatte etwas Pathetisches an sich. Der Lega-Chef sprach wie ein alter, kranker Mann. Er machte lange Pausen, suchte nach Worten. Trotz riesigen Verstärkern wirkte seine Stimme schwach. Am Schluss seiner 45minütigen Rede, riss er sich nochmals zusammen und rief in die Menge „Viva Padania, viva Padania“. Es klang fast etwas verzweifelt.