«Tristia» steht auch auf dem Programm der Berliner Philharmonie. Auf der Bühne ist es dunkel. Stille im Saal. Fast lautlos betritt der Chor die Bühne und bildet einen geschlossenen Kreis. Blick nach innen, den Rücken zum Publikum. Mittendrin, kaum sichtbar und schemenhaft im Dämmerlicht: Teodor Currentzis.
Atemberaubend, wie der Chor die kurzen Klagegesänge intoniert. Mal hingehaucht, mal schreiend, mal resigniert, mal trotzig und immer voller Trauer. Dazwischen ein Akkordeon, ein Fagott, eine einsame Mundharmonika, mal ein Schlaginstrument, ein Cello … dann öffnet sich der Kreis, der Chor dreht seine Runden wie Häftlinge im Gefängnishof, oder er verteilt sich in den Gängen zwischen den Zuschauern. Gebannt und wie hypnotisiert lässt sich das Publikum auf dieses aussergewöhnliche Konzert ein. Zwischen den einzelnen Stücken herrscht absolute Stille, ohrenbetäubende Stille, kein Rascheln, kein Husten, man wagt kaum Luft zu holen.
Gedichte von Häftlingen
Die Uraufführung von «Tristia» fand im Sommer vor zwei Jahren im sibirischen Perm statt. Komponist ist der Franzose Philippe Hersant. Das Werk beruht auf Gedichten, die französische Häftlinge im Kloster Clairvaux geschrieben haben, das eine Zeitlang als Gefängnis diente.
«Currentzis hat eine Aufnahme der ersten Stücke von ‘Tristia’ gehört und mich angefragt, ob ich das ausbauen und mit Gedichten von russischen Gefangenen auf etwa anderthalb Stunden verlängern könnte», erzählte mir Philippe Hersant damals in Perm. «Ich konnte es kaum glauben: Currentzis meldet sich bei mir!» Hersant zögerte nicht und komponierte eine Art Oratorium für einen Chor und weniger Instrumente. «Es ist eine Folge von Gefängnis-Geschichten, es ist wie ein Mosaik aus verschiedenen Steinen, die am Schluss ein Ganzes ergeben. Die französischen Gefangen habe ich alle getroffen, von den Russen hatte ich nur die Texte. Aber das Thema ist auf beiden Seiten gleich: Es geht um die Gefängnismonotonie.» Um Elend, Abschied und Schuld. Aus den verschiedenen Gedichten hat Hersant Texte ausgesucht, die so unterschiedlich wie möglich waren. Poesie mit starken Worten, mit tiefen Worten.
Lieder der Einsamkeit
Geprobt wurde im Sommer 2016 in Perm. Der Probenraum ist eine riesige Turnhalle in einem mächtigen Gebäude am Rande des Zentrums von Perm. Es ist schwül und heiss an diesem Tag und die Probe dauert schon geraume Zeit, aber das scheint niemanden zu stören. Gewerkschaftlich vorgeschriebene Zeiten gibt es nicht. Es ist die letzte Probe vor der Uraufführung. Paukengrummeln, leise, bedrohlich, brutale Männerstimmen schreien ihr Elend in den Raum, begleitet von Donnergrollen und zerquetschten, aufwallenden und verebbenden Akkordeonklangfetzen.
Dann klagender, leiser Männergesang, dazu rhythmische Frauenstimmen, süss und gebrochen, und immer wieder, wie sanfte Wellen, das Akkordeon dazu – alles fliesst ins Nichts …
Mittendrin Teodor Currentzis: Jeans, blaues T-Shirt, nichts Extravagantes. Er verausgabt sich physisch und psychisch und geht völlig auf in diesen suggestiven Stücken. Lieder der Einsamkeit, die das Elend in der Luft hängen lassen, eine einzelne Geige, trauernd, rhythmisch untermalt vom Akkordeon.
Hechelnde Stimmen, immer schneller, immer atemloser, ein russischer Text, fremdartig und anrührend, und immer wieder diese gottverlassenen Klänge.
Plötzlich, leicht und fröhlich wie ein Vogel, eine Flöte, eine Frauenstimme.
Russische Volksweisen klingen in Hersants Komposition an. Tiefe, volle Männerstimmen, hohe Frauenstimmen dazu, alles a cappella, und von ganz hinten mischt sich ein Fagott ein.
Man hat die Weiten Russlands vor dem geistigen Auge und spürt die Sehnsucht derer, die diese Weite nur durch Gitterstäbe sehen.
Philippe Hersant verfolgt die Probe wie elektrisiert. Die Arbeit mit Currentzis hat ihn nach eigenen Worten überwältigt. «Teodor ist ein Genie. Er versteht alles sofort. Das habe ich noch nie erlebt.»
Tags darauf, bei der mitternächtlichen Uraufführung, hört auch das Publikum bei Kerzenlicht gebannt den Klageliedern zu und erlebt in dieser von Currentzis inszenierten magisch-mythisch-mysteriösen Atmosphäre das Eingesperrtsein fast physisch. Und dies in Perm, einer Stadt, in der es jahrzehntelang einen Gulag gab, eines jener berüchtigten russischen Arbeitslager. Heute befindet sich dort mit «Perm 36» das einzige Gulag-Museum Russlands.
Achtgeben auf die Freiheit
«Kunst darf nicht ignorieren, was in unserem Leben geschieht. Aber ich glaube nicht an politische Kunst», so Currentzis. Aber ist «Tristia» denn nicht politisch? «Ich meine, wir sollten Politik nicht zu ernst nehmen», sagt Currentzis. «Alles ist korrupt und wir kennen das doch seit mehr als 1000 Jahren. An unterschiedlichen Schauplätzen und auf verschiedene Art. Wir müssen auf die Freiheit in unserem Leben achtgeben. Sie ist das Kostbarste, was wir haben.»
Über zwei Jahre ist das her. Currentzis hat «Tristia» seither an verschiedenen Orten in Russland aufgeführt. Nun trat er das erste Mal damit in Wien, Hamburg und Berlin auf. «Es klingt heute noch besser, noch intensiver als damals in Perm», sagt Komponist Philippe Hersant nach dem Konzert in der Berliner Philharmonie, und er kann es selbst kaum fassen.
Und das Publikum? Es bricht in nicht enden wollenden Jubel aus über ein Konzert voller Trauer, voller Tristesse und voller Schönheit.