Katzen sind metaphysische Tiere, buchstäblich. Sie verkörpern etwas, das über ihre beobachtbare Physis hinausweist, unser Verständnis übersteigt. Schaut man einer Katze in die Pupillenschlitze, schwankt man zwischen dem Erkennen eines Mitlebewesens und dem Blick in einen Abgrund. „Dann seh' ich staunend und im Tiefsten schauernd, / Dass ihre Augensterne feurig fahl, / Leuchtfeuern gleich und lebendem Opal, / Mich unverwandt betrachten, still und lauernd“, schreibt Baudelaire im Gedicht „Die Katze“ („Je vois avec étonnement / Le feu de ses prunelles pâles / Clairs fanaux, vivantes opales / Qui me contemplent fixement“).
Schriftsteller- und Philosophenkatzen
Katzen sind Grenzgängerinnen zwischen dem Heimischen und Unheimlichen. Sie haben einen Zwitterstatus als Fremde im Haus, als gehätschelte Raubtiere. Dieser unterschwellige Grenzcharakter ist ein anhaltendes Faszinosum für Dichter und Philosophen. Man denke nur an die zahlreichen Liaisons von Schriftstellern und ihren „literarisierten“ Katzen: Patricia Highsmith und „Ripley“, Hermann Hesse und „Narziss“, Mark Twain und „Huckleberry“, Michel Foucault und „Folie“, Albert Camus und „Etranger“, Jean-Paul Sartre und „Néant“, et cetera. So wie sie schon im alten Ägypten als Wächterin der Unterwelt fungierte, bringt die Katze heute noch etwas Unterweltliches ins Haus, und zwar in einem philosophischen Sinn: In ihr begegnet uns eine artfremde „wilde“ Perspektive – eine Katzen-„Subjektivität“. Wir betrachten die domestizierte Katze als unserer Welt zugehörig, aber wahrscheinlich lebt sie in ihrem ganz eigenen Merk- und Wirkuniversum. Montaigne beschreibt den Wechsel der Perspektiven sehr schön in der „Apologie für Raymond Sebond“: „Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiss, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir? Die närrischen Spiele, mit denen wir uns vergnügen, sind wechselseitig: Ebensooft wie ich bestimmt sie, wann es losgehn oder aufhören soll.“
Schnurrendes Kuscheltier, kratziges Krallenbiest
Natürlich lässt sich dies auch von vielen anderen Tieren sagen, aber die Katze erweist sich im Hinblick auf eine fremde Subjektivität als exemplarisch. Ähnlich wie sie ihr Verhalten oft abrupt ändern kann – vom schnurrenden Kuscheltier zum kratzigen Krallenbiest –, ändert sich auch unser Verständnis der Katze. Es scheint, dass sie nach Belieben ein vertrautes Verhaltensmuster zeigen kann, um jederzeit quasi aus dieser Vertrautheit zu springen. Man erinnert sich in diesem Zusammenhang an die Cheshirekatze aus „Alice im Wunderland“, deren Grinsen noch dableibt, auch wenn sie bereits verschwunden ist.
Katzen unterlaufen fortwährend den Traum eines perfekten Zusammenlebens. Sie kommen auf uns zu, wenn sie wollen, aber sie haben uns nicht nötig. Es scheint, dass wir diesen katzenhaften Eigenwillen und diese Selbständigkeit schätzen. Traditionell geschätzt wurden jedenfalls die Wächterdienste der Katze gegenüber häuslichen Eindringlingen wie Schlangen, Mäusen, Ratten. Nur sollten wir uns hüten, uneingeschränktes Vertrauen in diese Abwehrdienste zu setzen. Dass der tödliche Raubtierinstinkt sich mit den Interessen des Hauses verbündet, ist grossenteils Zufall. Katzen zeigen sich nach wie vor widerwillig, ihre eigenen Grenzen anzuerkennen. Der Schutz durch sie bleibt ein prekäres Arrangement.
Die Katze fordert den „Logozentrismus“ heraus
An Katzen hängt eine uralte Kulturgeschichte von Mythen und Fabeln. Sie eignen sich vorzüglich als Vehikel der Projektion und des magischen Denkens. Katzenbegegnungen werden seit alters als Orakel gesehen, als Künderinnen von Unglück, Katastrophe, Tod; noch heute machen wir einen Umweg um schwarze Katzen. Katzen sind aber auch Talismane, man verehrte sie als göttliche Botinnen, wenn nicht gar als gottartige Wesen, oder man respektierte sie als Menschen, der in einer anderen Tierform wiedergeboren wurde.
Aber einer Metaphysik der Katze geht es weniger um „Aberglauben“ als um einen philosophischen Blickwechsel auf andere Arten. Jacques Derrida deutet ihn in seinem Buch „Das Tier, das ich also bin“ an, wenn er beschreibt, wie der Blick seiner Katze auf seine Nacktheit im Badezimmer ihn aus seinem anthropozentrischen Schlummer weckte. Das heisst, auf einmal sei ihm die prädominante menschliche Voreingenommenheit bewusst geworden, welche die imperiale Zentralperspektive im Tierreich reklamiert. Aber es gibt nicht nur den menschlichen Blick auf das Tier, sondern auch den tierlichen Blick auf den Menschen. Dies zuzulassen bedeutet einen entscheidenden Schritt weg vom „Logozentrismus“ des Menschen. Derrida nannte seine Katze übrigens „Logos“ – die feine Ironie entgeht uns nicht.
Die rätselvolle Lücke in unserem Weltbild
Dem Tier eine eigene Perspektive zuzugestehen heisst nun allerdings nicht bloss, dass wir an ihm ein weiteres anatomisches, physiologisches oder ethologisches Merkmal entdecken, sondern dass sich die Mensch-Tier-Beziehung radikal verändert: von einer subordinativen Subjekt-Objekt-Beziehung zu einer paritätischen Beziehung zwischen zwei Subjekten, jedes mit artspezifischer Perspektive. Das heisst auch, dass der Mensch sich ohne das Tier nicht versteht. „Wenn Tiere nicht existierten, wäre die menschliche Natur nicht noch unverständlicher?” fragt der Naturforscher der Aufklärung Georges-Louis Buffon. Aber selbst wenn wir immer ausgeklügeltere Methoden der Tierforschung ersinnen, werden wir wahrscheinlich das Verhalten der Katze – des Tiers generell – nie ganz in unsere Kategoriensysteme „übersetzen“ können. Wittgenstein drückte das mit seinem berühmten Satz aus: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, würden wir ihn nicht verstehen.“ In humorvoller Art spricht T. S.Eliot in seinem Gedicht „The Naming of Cats“ von einem geheimnisvollen „dritten Namen“, den die Katze besitze und der dem Menschen nie zugänglich sei. Die Koevolution hat uns so sehr angenähert, dass wir sogar die berühmte Frage des Philosophen Thomas Nagel stellen: Wie ist es, eine Katze zu sein? Eine befriedigende Antwort werden wir nie erhalten. –
Das Tierreich ist eine „mens extensa“
Nun lässt sich nicht von einer gleichgestellten Beziehung zwischen Mensch und Katze in unseren privaten Haushalten sprechen, ohne zugleich auf einen der schreiendsten Widersprüche in unserem planetarischen Bio-Haushalt hinzuweisen. Er ist nach wie vor durch die menschliche Zentralperspektive geprägt, in der das Tier grösstenteils als industriell verwertbare Biomasse fungiert. Und diese Perspektive beruht auf dem metaphysischen Grundsatz der Trennug von menschlichem und nicht-menschlichem Leben, ausgedrückt im berühmten Dualismus von Descartes: das einzige Lebewesen mit Geist und Seele ist der Mensch, das Tier ist bloss eine „ausgedehnte Sache“, eine organische Maschine.
Es mutet allmählich wie ein abgenutzter Treppenwitz an, wenn der Mensch unentwegt nach einem entscheidenden Merkmal sucht, um sich vom Tier abzusetzen, und jedes Mal entdeckt, dass irgend eine andere Spezies ebenfalls dieses Merkmal oder zumindest Anlagen dazu mit sich bringt: Emotion, Intelligenz, Selbstbewusstsein, Werkzeuggebrauch, Imagination, Sozialität, Verhaltenserziehung (Kultur), Humor, Altruismus, Todesahnung ... eine fortgesetzte „Enttäuschung“ humaner Einzigartigkeit, dieser hartnäckigen Obsession. Natürlich kann und soll man über das spezifisch Humane an solchen Merkmalen debattieren – speziell darüber, was menschliche Kultur dazu beiträgt –, aber ob wir daraus je ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal gewinnen können, bleibt fraglich, und aufs Ganze gesehen erscheint ohnehin Darwins Gebot weiser: „So gross auch die Verschiedenheit an Geist zwischen dem Menschen und den höheren Tieren sein mag, sicher ist sie nur eine Verschiedenheit des Grades, nicht der Art.“
Descartes begründete die Neuzeit der Zoologie mit dem metaphysischen Totschlag der beseelten Natur. Die Metaphysik der Katze führt uns zurück zum Tierreich als einer „mens extensa“, einer Welt des ausgedehnten Geistes. Menschen sind ein Teil davon. Ein ausnehmend kleiner.