Diesmal ist es der Maler Nagasawa Rosetsu, dessen Ausstattung des Zen-Tempels Muryōji in Kushimoto im Zentrum einer umfangreichen Werkschau des Künstlers steht.
Er begegnet uns in der Ausstellung immer wieder, der kleine schwarze Hund mit dem weissen Kragen und dem flauschigen Fell. Mal schaut er balgenden Welpen zu, mal beobachtet er Kinder beim Spielen, und stets fängt er unseren Blick auf, zieht ihn hinein ins Geschehen und gibt uns zugleich Rätsel auf. Der kleine schwarze Hund mit dem weissen Kragen und dem flauschigen Fell ist immer nur von hinten zu sehen. Er sitzt da und schaut, und wir schauen mit ihm.
Augen, die den Blick des Betrachters gefangen nehmen und ihn hinter die Dinge lenken, spielen im Werk Nagasawa Rosetsus eine grosse Rolle. Nicht nur die berühmteste seiner Arbeiten, der monumentale Tiger aus dem Tempel in Kushimoto und sein ebenso monumentales Pendant, der Drache, schlagen uns durch ihre gelb leuchtenden Schielaugen in Bann, auch Affen schauen uns von schroffen Felsen herab an, als wollten sie uns etwas sagen. Ja, selbst die Kraniche, die um den heiligen Berg Fuji kreisen, und die Hirtenmainas, die sich um eine Klippe streiten, haben Augen, die man so schnell nicht wieder vergisst.
Der 1754 geborene und 1799 viel zu jung verstorbene Nagasawa Rosetsu gilt als Exzentriker unter Japans Künstlern. Man kennt die Stationen seines Schaffens, von seinem Leben selbst ist wenig bekannt. Er soll unter nie ganz geklärten Umständen gestorben sein und dem Sake über die Massen zugesprochen zu haben. Die Hängerolle „Betrunkener Gelehrter“ zeugt davon. „Als Scherz gemalt, als ich betrunken war. Fingermalerei von Rosetsu aus Heian“, heisst es in der Signatur. Dass Rosetsu zum Malen keineswegs nur Pinsel verwendete, sondern auch die Finger zu Hilfe nahm, wenn er Konturen verwischen oder besonders spontan ans Werk gehen wollte, lässt sich in der Ausstellung im Rietberg-Museum gut beobachten. Und auch, dass Pinsel nicht gleich Pinsel ist. Mal sind die Figuren haarfein und fast fotografisch genau ausgeführt, mal holt der Künstler so weit und kraftvoll aus, dass es aussieht, als habe er statt eines Pinsels einen Tierschwanz zum Malen verwendet. Vor allem Spätwerke wie das Paar sechsteiliger Stellschirme mit dem Titel „Landschaft mit chinesischen Figuren“ aus Rosetsus letztem Lebensjahr muten heute an, als sei hier ein Vorläufer des Action Paintings am Werk gewesen.
Wie eigenständig und avant-gardistisch dieser Künstler innerhalb der japanischen Malerei dasteht, wird nur beurteilen können, wer sich in der Materie auskennt. Alle anderen, zu denen ich mich auch zähle, sind auf die kurzgefassten, aber sehr informativen Erläuterungen im Ausstellungsheft oder auf den grossformatigen Katalog aus dem Prestel-Verlag angewiesen, wenn sie mehr über die Bedeutung dieser Malerei wissen wollen. Oder aber – auch dies eine Möglichkeit, diese Ausstellung zu würdigen – man lässt sich einfach treiben und macht es wie der kleine schwarze Hund: Man schaut und schaut, man bewundert, man staunt und lässt sich ein auf diese Meisterwerke aus einer anderen Welt.
Nagasawa Rosetsu muss ein ungemein guter Beobachter gewesen sein, und Humor hatte er auch. Er erfasste die Figuren, Tiere vor allem, nicht nur in ihrer äusseren Gestalt, sondern auch in ihrem inneren Wesen. So flüchtig manches hingetuscht erscheinen mag, so naturnah ist es in der Ausführung. Die Affen und die jungen Hunde, die Vögel und Katzen, ja selbst der Tiger und sein Gespane, der Drache, wirken so lebendig, dass man sich nicht wundern würde, wenn sie plötzlich an uns vorbei aus dem Papier springen würden.
Den Tiger und den Drachen aus dem Muryōji-Tempel in Kushimoto soll Rosetsu, so will es zumindest die Legende, in einer einzigen Nacht auf die Schiebtüren gemalt haben. Man glaubt es, wenn man sich die kräftigen Linien anschaut, die sich von dem geringelten Schwanz bis zu den Ohren des Tigers und vom gezackten Rücken bis zu den geifernden Lefzen des Drachen ziehen. Damit die Türen mit den beiden Hütern Buddhas und all die weiteren Paneele mit ihren Hühnern, Katzen und Kranichen, den spielenden chinesischen Kindern und den daoistischen Unsterblichen gebührend zur Geltung kommen, haben die Kuratoren der Ausstellung, Khanh Trinh, Matthew McKelway sowie Takeo und Itsuko Atsumi, den Zen-Tempel in Kushimoto im Rietberg-Museum rekonstruiert und so auch westlichen Besuchern ein original japanisches Raumerlebnis ermöglicht.
Neben den für japanische Malerei typischen Hängerollen sind es vor allem die Schiebetüren und Stellschirme, die Rosetsu künstlerisches Schaffen auszeichnen. Sechs bis acht Paneele reihen sich da aneinander und ermöglichen es dem Künstler, Szenerien von ungeheurer Spannweite zu entwickeln. Da ragen Felsen schroff zum Himmel empor, da recken Bäume ihre Zweige kühn in den Raum, da verlieren Schiffe, Zugvögel, Wolken sich in lichter Ferne, und dazwischen breitet sich diese Leere aus, die asiatische Kunst so aufregend macht.
Doch Rosetsu kann auch ganz anders, wie ein einzelnes Bambusrohr vor einem schimmernden Mond, zwei winzige Figuren auf einer Brücke oder die „Fünfhundert Arhats“ im Mikroformat zeigen. Da reichen ihm eine kaum handbreite Rolle, der Fächer einer Frau oder ein briefmarkengrosses Stück Papier, um eine ganze Welt in Andeutungen vor unseren Augen entstehen zu lassen. Eine Fähigkeit, die auch in den zahlreich vertretenen Hängerollen zum Ausdruck kommt. Geschickt kombiniert der Künstler hier klare Konturen mit lavierten Flächen, ein sparsam verwendetes Rot mit den Grautönen der Tusche, exakte Detailstudien mit flüchtigen Skizzen und erzeugt so eine Spannung, die bei aller scheinbaren Spontaneität auf allerhöchsten Kunstsinn schliessen lässt.
Da manche der ausgestellten Werke aus konservatorischen Gründen nur einen Monat lang gezeigt und danach ausgewechselt werden, empfiehlt es sich, die Ausstellung mehrmals zu besuchen und auch das Rahmenprogramm zu beachten, das neben Angeboten für Familien und Kinder auch ein hochrangiges Symposium, einen Experten-Talk, Tee-Degustationen und verschiedene Performances bereit hält. Die Ausstellung dauert noch bis zum 4. November.